Johannes 20,29 Mut. Er sagt’s einfach → „Du glaubst, weil du mich gesehen hast. Wie glücklich können sich erst die schätzen, die mich nicht sehen und trotzdem glauben!“

Fettgedrucktes für schnell Leser…

Einleitender Impuls:

Thomas zweifelt – ja, vielleicht. Aber er zeigt auch, was ihn wund macht. Und das ist der Moment, in dem Jesus ihm begegnet. Wer seine Wunde nicht versteckt, wird gesehen.

Wenn wir ehrlich sind: Wir alle haben diese Momente. Wir hören von Hoffnung, aber fühlen manchmal nichts. Wir beten – oder tun so. Wir wissen, was man glauben „sollte“, aber da ist diese Stimme: Was, wenn es nicht stimmt? Thomas spricht das aus. Nicht verschämt, nicht trotzig – sondern klar. Und das ist das Krasse: Er wird nicht beschämt, sondern ernst genommen. Johannes schreibt das nicht am Rand, sondern ganz bewusst am Höhepunkt seines Evangeliums. Als wollte er sagen: Schau genau hin – das ist auch ein Weg zum Glauben, nicht das Hindernis.

Was mich bewegt: Thomas verlangt nichts Übernatürliches. Er verlangt Nähe. Greifbare Realität. Den gekreuzigten Jesus, nicht eine Idee. Und Jesus kommt – mit Wunden, nicht mit Blitz und Gloria. Der Auferstandene trägt seine Verletzungen offen. Und genau dadurch erkennt Thomas ihn. Vielleicht ist das das ganze Geheimnis: Echte Begegnung geschieht nicht immer dort, wo alles stimmt – sondern auch wo Zweifel offen angesprochen werden.

Ich liebe, dass Thomas nicht schweigt. Dass er sich traut, das zu sagen, was viele von uns sich nicht mal zu denken erlauben. Und ich liebe, dass Johannes das nicht kaschiert. Kein Happy-End mit rosa Schleife. Sondern ein Glaube, der aus der Wunde wächst. Der sich nicht beweisen lässt, aber tragen kann. Weil er den Zweifel kennt – und nicht daran zerbricht.

Fragen zur Vertiefung oder für Gruppengespräche:

  1. Was passiert in dir, wenn du merkst, dass du bestimmte Zusagen Gottes einfach nicht glauben kannst? Diese Frage will dich nicht bloßstellen – sondern einladen, ehrlich wahrzunehmen, wie du gerade glaubst. Sie öffnet den Raum, in dem deine ehrliche Reaktion nicht verteidigt, sondern angesehen werden darf.
  2. Wo versuchst du gerade, stark zu wirken, obwohl du innerlich längst nach Berührung schreist? Diese Frage bringt den Text ins Heute – dort, wo Nähe nicht durch Leistung, sondern durch Offenheit entsteht. Es geht nicht um einen Appell, sondern um den Mut, sich selbst nicht mehr verstecken zu müssen.
  3. Was, wenn die tiefste Wahrheit deines Glaubens nicht sichtbar, sondern fühlbar wird – und du trotzdem bleibst? Die Frage zielt auf deine Bereitschaft, mitzugehen, auch wenn du nichts siehst. Sie tastet nach deiner geistlichen Beziehung zum Unsichtbaren – nicht als Forderung, sondern als Einladung.

Parallele Bibeltexte als Slogans mit Anwendung:

Hebräer 11,1 – „Vertrauen ohne Beweis.“ → Dieser Text erinnert uns: Glaube beginnt nicht mit Sehen – sondern mit Vertrauen auf das, was wir noch nicht fassen können.

2. Korinther 5,7 – „Im Vertrauen vorwärts.“ → Gott lädt ein, nicht im Licht der Beweise zu leben – sondern im Licht seiner Verheißungen.

Psalm 73,28 – „Nähe statt Antwort.“ → Manchmal wird Glaube nicht dadurch gestärkt, dass wir alles verstehen – sondern dass wir spüren: Gott ist da.

Markus 9,24 – „Glaube, der zögert.“ → Der Vater, der sagt: „Ich glaube – hilf meinem Unglauben“ steht sinnbildlich für alle, die glauben wollen und trotzdem wanken.

Wenn du dir 20 Minuten nimmst, findest du keine schnellen Antworten – aber vielleicht eine neue Sicht auf dich, deinen Glauben und einen Gott, der dich sogar dann berührt, wenn du noch zögerst.


Ausarbeitung zum Impuls

Bevor wir tiefer einsteigen, nimm dir einen Moment. Lass den Alltag kurz zur Seite sinken. Und wenn du magst, bete mit mir – ganz schlicht, ohne Anspruch, einfach ehrlich.

Liebevoller Vater, ich danke dir für diesen Moment. Für einen Atemzug Ruhe zwischen allem, was sonst so laut ist. Danke für Thomas – nicht, weil er perfekt geglaubt hat, sondern weil er ehrlich war. Dass er sich getraut hat zu sagen, was viele nur denken. Du hast ihn nicht bloßgestellt, sondern berührt. Und ich wünsche mir das auch: Dass du kommst, wo ich frage. Dass du bleibst, wo ich zweifle. Und dass ich nicht so tun muss, als wäre mein Glaube immer stark. Zeig mir, dass ich dir auch so begegnen kann – verwundbar, offen, echt. Danke, dass du keine Show willst, sondern Nähe. Dass du uns selig nennst, auch wenn wir nicht sehen. Oder gerade dann. Im Namen Jesu, Amen.

Dann lass uns jetzt gemeinsam in die Ausarbeitung eintauchen – Wort für Wort, ehrlich, schriftzentriert, mit offenem Herzen.

Persönliche Identifikation mit dem Text und der Ausarbeitung:

In diesem Ersten Abschnitt geht es nicht darum, den Text zu erklären – sondern ihm zuzuhören. Es ist eigentlich der Letze schritt der Ausarbeitung gewesen, der den Ich nach allen anderen Schritten gegangen bin, die du danach lesen kannst… Ich versuche den Text zu sehen, zu hören zu fühlen und stelle mir die leisen, ehrlichen „W“-Fragen: Was spricht mich an? Was bleibt unausgesprochen? Warum bewegt mich das gerade jetzt? Ich frage mich, wie dieser Vers meinen Alltag berühren kann – nicht theoretisch, sondern greifbar. Und ich spüre nach, was das mit meinem Glauben macht – ob es trägt, fordert, tröstet oder alles zugleich. Am Ende suche ich nicht die perfekte Antwort, sondern eine aufrichtige Reaktion: Was nehme ich mit – ganz persönlich, im Herzen, im Leben, im Blick auf Gott.

Also, bereit?

Ich spreche über die Perikope aus Johannes 20,19–29 – über verschlossene Türen, atmende Worte, durchbohrte Hände. Ein Abschnitt, der nicht einfach gelesen werden will, sondern sich wehrt. Der leise ist – aber unverschämt klar. Der nicht gefragt hat, ob ich gerade bereit bin. Und vielleicht deshalb genau jetzt trifft.

„Selig sind, die nicht sehen und doch glauben“ – dieser Satz hallt nach, weil er sich so schwer greifen lässt. Der griechische Begriff „πιστεύω“ (pisteuō) meint mehr als bloßes Für-wahr-Halten. Es ist ein tiefes Vertrauen, ein sich-Anvertrauen, eine existentielle Bindung. Aber wie soll das gehen, wenn ich nichts sehe? In einer Welt, in der jede Wahrheit ein Bild braucht, jeder Moment gepostet werden will, ist das eine Zumutung. Vielleicht sogar ein Affront. Es ist einfacher, mit Thomas zu fühlen als mit den „Selig-Genannten“. Und ja – manchmal will ich auch sehen. Nicht als Beweis, sondern als Halt. Als Vergewisserung. Ich verstehe Thomas. Vielleicht zu gut.

Was mich erschüttert: Jesus beschämt ihn nicht. Er tadelt ihn nicht einmal hart. Er kommt ihm entgegen – mit Wunden. Das ist kein Glanzmoment. Das ist roh. Offen. Die griechischen Wörter für „Sehen“ (ὁράω – horaō) und „Berühren“ (ψηλαφάω – psēlafaō) tauchen genau dort auf, wo Glaube sich im Körper verankern will. Der Auferstandene bleibt der Verwundete. Das berührt mich mehr, als ich erwartet habe. Denn ich will manchmal den Sieg ohne die Narben. Aber er kommt nicht ohne sie.

Und dann dieses Atmen. Jesus haucht – „ἐνεφύσησεν“ (emphysaō) – und spricht: „Empfangt den Heiligen Geist.“ Das ist kein Schauspiel. Das ist der Moment, in dem die neue Schöpfung greifbar wird. Das gleiche Wort wie in Genesis 2,7, als Gott dem Adam Leben einhaucht. Hier: neues Leben, neues Sein. Ich frage mich, was es bedeutet, so gehaucht zu werden. Ob ich das überhaupt merke. Ob der Geist wirklich so leise ist – und ob ich zu laut bin, um ihn zu hören.

Aber: Was ist das für ein Geist? Johannes lässt offen, was Lukas in Apostelgeschichte 2 so dramatisch erzählt. Das griechische Verb „λάβετε“ (labete) – „empfangt“ – steht da nicht als Zukunft, sondern als Imperativ. Jetzt. Nicht später. Es ist ein reales Geschehen. Aber kein Widerspruch zu Pfingsten, sondern ein anderer Akzent. Ein geistlicher Auftrag vor dem öffentlichen Ausbruch. Das berührt meine adventistische Sicht besonders: Wir glauben, dass der Geist nicht gebunden ist an ein Ereignis, sondern dass Gott souverän handelt – dann, wenn er will, in der Form, wie er will. Der Geist hier sendet – und macht nicht spektakulär. Das ist stille Macht.

Was mich nicht loslässt, ist der Moment, in dem Jesus sagt: „Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch.“ Diese Spiegelung ist zu groß für mich. Ich bin nicht der Sohn Gottes. Aber ich bin gesandt – als Zeuge, als Hörender, als Mitgehender. Die griechische Formulierung „καθὼς ἀπέσταλκέν με“ (kathōs apestalken me) bedeutet: auf gleiche Weise, nicht nur mit gleichem Ziel. Das erschreckt mich. Denn es ist nicht nur ein Auftrag. Es ist ein Abdruck. Wer sich senden lässt, wird geformt – nicht nach eigenen Vorstellungen, sondern nach den Spuren des Gekreuzigten.

Und dann ist da noch diese Sache mit der Vergebung. Ich ringe hier. Johannes 20,23 klingt gefährlich absolut. „Wem ihr die Sünden vergebt, dem sind sie vergeben.“ Aber das griechische Verb „ἀφίημι“ (aphiēmi) bedeutet nicht Macht, sondern Freigabe. Loslassen. Nicht: Ich entscheide über Schuld – sondern: Ich diene dem Werk Gottes, das schon geschehen ist. Aus meiner adventistischen Überzeugung heraus sehe ich hier keine kirchliche Autorität, die Sünden festhält oder erlässt – sondern eine Gemeinde, die bezeugt, was Gott getan hat. Die das Evangelium nicht kontrolliert, sondern es weitergibt. Vergebung ist kein kirchliches Privileg, sondern ein verkündigtes Wunder.

Was nehme ich mit? Nicht eine neue Erkenntnis. Sondern eine neue Ehrfurcht. Vor dem Atem. Vor dem Auftrag. Vor dem Glauben, der keine Bilder braucht. Vor einem Gott, der nicht blendet, sondern verwundete Hände zeigt. Ich nehme mit, dass Gemeinde nicht mit Macht beginnt, sondern mit Atem. Nicht mit Beweisen, sondern mit Vertrauen. Und dass ich, selbst wenn ich wie Thomas bin – tastend, zögernd, ehrlich zweifelnd – nicht draußen bin. Sondern mittendrin.

Vielleicht ist genau das das Evangelium: Nicht dass ich glaube – sondern dass ich gemeint bin. Auch wenn ich noch nicht glaube. Auch wenn ich nicht sehe. Auch wenn ich ringe.

Wer weitergehen will, findet hier die vollständige Ausarbeitung – mit allen theologischen Tiefenschichten und Stimmen der Tradition.

Der Text:

Zunächst werfen wir einen Blick auf den Text in verschiedenen Bibelübersetzungen. Dadurch gewinnen wir ein tieferes Verständnis und können die unterschiedlichen Nuancen des Textes in den jeweiligen Übersetzungen oder Übertragungen besser erfassen. Dazu vergleichen wir die Elberfelder 2006 (ELB 2006), Schlachter 2000 (SLT), Luther 2017 (LU17), Basis Bibel (BB) und die Hoffnung für alle 2015 (Hfa).

Johannes 20,29

ELB 2006: Jesus spricht zu ihm: Weil du mich gesehen hast, hast du geglaubt. Glückselig sind, die nicht gesehen und doch geglaubt haben!

SLT: Jesus spricht zu ihm: Thomas, du glaubst, weil du mich gesehen hast; glückselig sind, die nicht sehen und doch glauben!

LU17: Spricht Jesus zu ihm: Weil du mich gesehen hast, darum glaubst du? Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!

BB: Da sagte Jesus zu ihm: »Du glaubst, weil du mich gesehen hast. Glückselig sind die, die mich nicht sehen und trotzdem glauben!«

HfA: Da sagte Jesus: »Du glaubst, weil du mich gesehen hast. Wie glücklich können sich erst die schätzen, die mich nicht sehen und trotzdem glauben!«

Der Kontext:

In diesem Abschnitt geht es darum, die grundlegenden Fragen – das „Wer“, „Wo“, „Was“, „Wann“ und „Warum“ – zu klären. Das Ziel ist es, ein besseres Bild von der Welt und den Umständen zu zeichnen, in denen dieser Vers verfasst wurde. So bekommen wir ein tieferes Verständnis für die Botschaft, bevor wir uns den Details widmen.

Kurzgesagt… Die Szene spielt am Abend des ersten Tages nach der Auferstehung. Die Jünger haben sich eingeschlossen – aus Angst. Dann tritt Jesus plötzlich in ihre Mitte. Was er sagt, ist keine Floskel. Es ist der Beginn einer neuen Realität: Frieden, Sendung, Geist – alles an einem Abend. Und mittendrin: Thomas. Spät dran. Laut in seinem Zweifel. Aber am Ende derjenige, der eine der größten Bekenntnisse der Bibel ausspricht.

Previously on… Wenn du dir das Johannesevangelium wie eine Serie vorstellst, dann sind wir jetzt fast im Finale. Jesus wurde verhaftet, verhört, hingerichtet. Die Jünger? Verwirrt, ängstlich, zurückgezogen. Maria Magdalena ist die erste am Grab, sieht: leer. Dann begegnet sie dem Auferstandenen – als erste Zeugin. Petrus und der „andere Jünger“ kommen, sehen die Leinentücher, verstehen aber noch nicht. Jetzt, an diesem Abend, sitzen sie zusammen – eingeschlossen, mit gesenktem Blick und pochendem Herz. Und Jesus kommt durch die Tür, ohne sie zu öffnen. Nicht, um ihnen Vorwürfe zu machen. Sondern um ihnen Frieden zu wünschen. Und Auftrag zu geben. Aber Thomas ist nicht dabei. Eine Woche später kommt auch er dran.

Der geistig-religiöse Kontext ist ein Spannungsfeld: Zwischen alter Hoffnung und neuer Wirklichkeit. Die Jünger hatten erwartet, dass Jesus als Messias das Königreich aufrichtet – mit Kraft, vielleicht auch mit sichtbarem Triumph. Stattdessen: Kreuz, Tod, Grab. Und nun: Auferstehung. Aber nicht als Rückkehr zur alten Ordnung. Sondern als Anfang von etwas Neuem. Das überfordert. Verständlich. Das Alte Testament kennt Auferstehung, aber nicht so. Nicht mitten in der Geschichte. Nicht persönlich, greifbar. Der auferstandene Jesus bricht mit jeder Erwartung – und erfüllt doch alles. Das ist das Spannungsfeld, in dem sich die ersten Christen wiederfinden. Und Johannes schreibt das alles auf – nicht als Chronist, sondern als Zeuge. Für eine Generation, die nicht mehr sehen kann – aber glauben soll.

Denn genau das ist der Anlass dieses Abschnitts: Was heißt es zu glauben, wenn man nicht sieht? Thomas ist da ein Schlüssel: nicht als zweifelnder Außenseiter, sondern als einer von uns. Johannes hebt ihn nicht raus, um ihn klein zu machen – sondern um etwas klarzustellen: Glauben braucht nicht weniger als Beweise, sondern etwas anderes. Etwas Tieferes. Das Johannesevangelium ist überhaupt durchzogen von dieser Frage: Was bedeutet Glaube in einer Welt, die Jesus nicht mehr anfassen kann? Und wie entsteht Kirche, wenn der Gründer nicht mehr sichtbar ist – sondern gegenwärtig auf andere Weise?

Historisch-grammatikalisch betrachtet, stehst du hier an einer Zeitenwende. Jerusalem ist noch nicht gefallen, der Tempel steht noch. Aber die ersten Christen sind schon auf dem Weg, sich als neue Gemeinschaft zu verstehen – geboren aus einem leeren Grab, erfüllt durch einen Hauch. Sie haben keine Struktur, keine Kathedrale, kein Schutz. Aber sie haben eine Botschaft. Und einen Auftrag. Johannes fängt diesen Moment ein – mit Blick für Details, mit Tiefe, mit einer spürbaren Ehrfurcht. Und mit einem leisen Ziel: dass du dich selbst erkennst in diesen Versen. In der Angst. Im Zweifel. Im Erkennen.

Damit wir das besser verstehen, schauen wir uns im nächsten Schritt die zentralen Schlüsselwörter des Textes an – denn jedes einzelne davon trägt theologische Tiefe in sich.

Die Schlüsselwörter:

In diesem Abschnitt wollen wir uns genauer mit den Schlüsselwörtern aus dem Text befassen. Diese Worte tragen tiefere Bedeutungen, die oft in der Übersetzung verloren gehen oder nicht auf den ersten Blick ersichtlich sind. Wir werden die wichtigsten Begriffe aus dem ursprünglichen Text herausnehmen und ihre Bedeutung näher betrachten. Dabei schauen wir nicht nur auf die wörtliche Übersetzung, sondern auch darauf, was sie für das Leben und den Glauben bedeuten. Das hilft uns, die Tiefe und Kraft dieses Verses besser zu verstehen und ihn auf eine neue Weise zu erleben.

Johannes 20,29 – Ursprünglicher Text (Nestle-Aland 28):

λέγει αὐτῷ ὁ Ἰησοῦς· Ὅτι ἑώρακάς με πεπίστευκας; μακάριοι οἱ μὴ ἰδόντες καὶ πιστεύσαντες.

Übersetzung Johannes 20,29 (Elberfelder 2006):

Jesus spricht zu ihm: Weil du mich gesehen hast, hast du geglaubt. Glückselig sind, die nicht gesehen und doch geglaubt haben!

Semantisch-pragmatische Kommentierung der Schlüsselwörter

  • Ὅτι ἑώρακάς με – „Weil du mich gesehen hast“: Das griechische Verb ὁράω steht hier im Perfekt: ἑώρακάς – „du hast gesehen“. Das Perfekt bringt eine abgeschlossene Handlung mit bleibender Wirkung zum Ausdruck. Es geht also nicht nur darum, dass Thomas Jesus gesehen hat – sondern dass dieses Sehen nun etwas nach sich zieht. Das Sehen ist der Anlass, aber auch der Prüfstein des Glaubens. Interessant: Bei Johannes ist „sehen“ nie nur optisch. Es ist fast immer „erkennen“, „wahrnehmen“, „innerlich erfassen“. Und doch: In der Thomas-Perikope wird genau dieses „sehen“ in Frage gestellt – nicht im Sinne von Zweifel an der Sichtung, sondern in der theologischen Wertung. Jesus entzieht dem Sehen das Primat. Es bleibt wichtig – aber es ist nicht mehr das Kriterium des Glaubens.
  • πεπίστευκας – „du hast geglaubt“: Auch das Verb πιστεύω erscheint im Perfekt: „du hast geglaubt“ – wieder eine abgeschlossene Handlung mit bleibendem Resultat. Das Sehen führte zum Glauben – aber dieser Glaube ist reaktiv. Er ist nicht ungenügend, aber auch nicht vorbildlich. In der johanneischen Theologie ist Glauben stets mehr als Für-wahr-Halten. Es ist Vertrauen, Hingabe, Bindung an die Person Jesu. Hier jedoch liegt eine Spannung: Der Glaube ist wahr, aber nicht glückselig – denn er ist durch Sehen ausgelöst. Jesus fordert einen Glauben, der nicht von Evidenz abhängig ist, sondern aus der Beziehung lebt.
  • μακάριοι – „glückselig“: Hier steht μακάριοι, das Wort der Seligpreisungen. Es geht nicht um emotionale Freude, sondern um göttliche Begünstigung, um das Urteil des Himmels über das Leben eines Menschen. Wer makarios ist, steht auf der Seite Gottes – unabhängig von äußeren Umständen. Jesus dehnt diesen Status nun aus: Nicht die Apostel, nicht die Augenzeugen – sondern jene, die nicht gesehen haben, gelten als glückselig. Damit wird eine neue Ära des Glaubens eröffnet: die Ära der Kirche, derer, die auf Zeugnis hin glauben – nicht auf Sicht.
  • οἱ μὴ ἰδόντες – „die nicht gesehen haben“: Hier beginnt das Paradox: Glückselig sind nicht die, die gesehen haben – sondern die nicht gesehen haben. Das Partizip ἰδόντες (Aorist von εἶδον) markiert punktuelle Wahrnehmung: Diese Menschen haben nie gesehen. Sie haben keine Erscheinung erlebt, keinen Finger in Wunden gelegt – und dennoch glauben sie. Der Einsatz von μή (statt οὐ) weist auf eine subjektive Perspektive hin: Diese Menschen waren gar nicht in der Lage zu sehen – und dennoch haben sie sich auf das Zeugnis verlassen. Der Glaube geschieht trotz der Unsichtbarkeit – und wird dadurch zum theologischen Wendepunkt.
  • καὶ πιστεύσαντες – „und doch geglaubt haben“: Auch hier ein Aorist-Partizip: punktuell, entscheidend. Der Glaube der nicht Sehenden ist nicht weniger, sondern mehr. Er ist frei von Beweis, frei von Absicherung – und deshalb seliggepriesen. Bemerkenswert ist, dass Sehen und Glauben hier im Griechischen nicht nur syntaktisch verbunden sind, sondern rhetorisch konfrontiert: Das eine wird zurückgenommen, das andere erhoben. Das ist keine Verurteilung der Sicht, sondern eine Neujustierung der Glaubensqualität: Der neue Glaube lebt nicht mehr aus Erleben – sondern aus Vertrauen auf das Zeugnis (vgl. Joh 20,31).

Im Zentrum dieser Aussage Jesu stehen zwei Verben – „sehen“ und „glauben“ – die auf überraschende Weise miteinander verknüpft und zugleich voneinander gelöst werden. Wer gesehen hat, soll nicht der Gesegnete sein, sondern der, der gerade nicht gesehen hat – und dennoch glaubt. Diese paradoxe Bewegung trägt die Tiefe der Aussage. Das schauen wir uns jetzt im Kommentar genauer an.

Ein Kommentar zum Text:

Theologische Grundlage

Jesus trat mitten unter sie – obwohl die Türen verschlossen waren. Das ist keine beiläufige Beobachtung, sondern eine Provokation. Eine Irritation der physischen Ordnung. Eine Erinnerung: Die Auferstehung sprengt nicht nur das Grab, sondern auch unsere Vorstellungskraft. Was tun wir mit einem Christus, der weder an Wände gebunden ist noch an unsere Kategorien von Realität?

Johannes 20,19–29 berichtet nicht nur von der Erscheinung des Auferstandenen, sondern von der Überforderung des Glaubens angesichts seiner Wirklichkeit. Es geht um Furcht hinter verschlossenen Türen, um den Atem Gottes, der Leben einhaucht, um gesendete Zeugen, denen Vollmacht gegeben wird – und um einen Thomas, der nicht glaubt, was er nicht anfassen kann.

Die Szene ist zweigeteilt: Verse 19–23 schildern das Erscheinen Jesu vor der versammelten Jüngerschaft, Verse 24–29 führen zur Begegnung mit Thomas. In beiden Abschnitten wiederholt sich die Formel eirēnē hymin – „Friede sei mit euch“. Diese wiederholte Segensformel fungiert als theologische Klammer und macht deutlich: Der Friede des Auferstandenen ist kein psychologischer Trost, sondern göttlicher Auftrag.

Der zentrale Begriff im Schlussteil der Perikope ist πιστεύσας – (pisteusas), das Partizip von πιστεύω (pisteuō) – „glauben“. In der johanneischen Theologie meint pisteuō nicht primär das Für-wahr-Halten von Tatsachen, sondern das Vertrauen in die offenbarte Identität Jesu – seine Sendung, sein Wesen, seine Einheit mit dem Vater (vgl. Johannes 3,16; 8,24; 11,27). Der Glaube ist personal und existenziell – nicht bloß erkenntnismäßig.

Andreas J. Köstenberger unterstreicht diesen Kontrast zwischen Scheitern und Sendung. Jesus tritt in den Raum – ohne Vorwurf, aber mit Kommission. „Der Auftrag an die Jünger wurzelt in seiner eigenen Sendung durch den Vater“ (Köstenberger, John). Die Wiederholung des Friedensgrußes markiert nicht nur einen Neuanfang, sondern eine Neuverortung: Diese Jünger sind nicht mehr nur Zeugen der Passion, sondern nun Träger der Mission. Es ist ein Übergang vom Rückzug zur Sendung – eingeleitet von einem Friedenswort, das nicht bloß beruhigt, sondern beauftragt.

Die Formulierung „Wie der Vater mich gesandt hat, so sende ich euch“ (V. 21) steht im Zentrum des Sendungsverständnisses. D. A. Carson betont, dass diese Parallele nicht bloße Nachahmung meint, sondern Partizipation: „Die Jünger nehmen nicht einfach das Werk Jesu auf – sie werden hineingenommen in den göttlichen Sendungsstrom“ (Carson, The Gospel according to John). Die Gemeinde ist also nicht Erfindung der Nachfolger, sondern Frucht göttlicher Initiative.

Diese Sendung wird sofort mit der Gabe des Geistes verbunden. In Vers 22 heißt es: ἐνεφύσησεν καὶ λέγει αὐτοῖς· Λάβετε πνεῦμα ἅγιον – „Er hauchte sie an und sprach: Empfangt den Heiligen Geist.“ Das Verb ἐμφυσάω (emphysaō) ist außergewöhnlich: Es findet sich im Neuen Testament nur an dieser Stelle, verweist aber unmissverständlich auf Genesis 2,7, wo Gott dem Menschen den Lebensatem einhaucht. Für mich verweist dies auf eine Neuschöpfung der Gemeinschaft: Die verängstigte Gruppe wird durch das Einhauchen des Geistes zur geistlichen Gemeinde geformt (vgl. Hesekiel 37).

Colin Kruse betont: „So wie Gott dem Adam den Lebensatem einhauchte, so haucht Christus den Geist in die Jünger – als Zeichen neuen Lebens“ (Kruse, John). Rudolf Schnackenburg spricht sogar von einer „spirituellen Gründung der Kirche“, aber nicht als sakramentalen Akt, sondern als theologische Verortung: „Es geht nicht um ein Spektakel, sondern um das innere Band, das die Jünger mit Christus verbindet“ (Schnackenburg, Johannes). Für mich ist dieser Atem kein Ersatz für Pfingsten (Apostelgeschichte 2), sondern ein proleptisches Zeichen – sprich eine symbolische Vorausnahme des Kommenden, jedoch real im Sinne der inneren Bevollmächtigung.

Als Adventist lese ich diesen Vers im Licht von Johannes 14,16–17. Dort verheißt Jesus den Beistand, den Paraklet – (paraklētos) –, der „in euch sein wird“. Diese Szene in Johannes 20 ist der Übergang von der Verheißung zur Wirklichkeit. Der Geist wird nicht in spektakulärer Weise ausgegossen, sondern im Atem des Auferstandenen übertragen – leise, direkt, schöpfungstief.

Unmittelbar danach spricht Jesus von der Vollmacht zur Sündenvergebung: ἄν τινων ἀφῆτε τὰς ἁμαρτίας, ἀφίενται αὐτοῖς – „Wenn ihr jemandem die Sünden vergebt, dem sind sie vergeben“. Dieser Vers wurde vielfach sakramental verstanden – als Begründung priesterlicher Beichtvollmacht. Ich halte diese Lesart für irreführend. Die Formulierung ist passivisch: apheiantai – „sie sind (bereits) vergeben“. Die Jünger handeln nicht als Souveräne, sondern als Sprecher göttlicher Vergebung.

Leon Morris betont: „Die Vollmacht zur Vergebung ist an die Gemeinschaft gebunden – nicht an individuelle Amtsträger“ (Morris, The Gospel according to John). Auch Raymond E. Brown sieht in diesem Satz keinen Automatismus, sondern den Ausdruck geistgeleiteter Unterscheidung: „Die Gemeinde spricht die Vergebung aus, die in Christus bereits geschehen ist“ (Brown, The Gospel according to John XIII–XXI). In meiner theologischen Haltung bedeutet das: Die Kirche bezeugt Vergebung – sie erzeugt sie nicht. Der Dienst der Versöhnung (vgl. 2. Korinther 5,18–20) ist ein Dienst der Repräsentation, nicht der Sakramentsverwaltung.

Und dann kommt Thomas. Der Abwesende. Der Prüfende. Der Spätberufene. „Wenn ich nicht sehe… werde ich nicht glauben“ (V. 25). Thomas formuliert keine Rebellion, sondern einen Schwellenzustand: Er sucht Gewissheit inmitten des Möglichen. St. John Chrysostom schreibt: „Er sagte nicht: Ich glaube euch nicht – sondern: Wenn ich nicht sehe und berühre, glaube ich nicht“ (Chrysostom, Homilies on John). Jesus verurteilt ihn nicht, sondern begegnet ihm mit Bereitschaft: „Lege deinen Finger hierher“ (V. 27). Diese Einladung ist weder Sarkasmus noch Tadel – sondern seelsorgerlich.

Origenes erkennt in Thomas den Repräsentanten all jener, „die nicht leichtgläubig sind, sondern prüfen wollen, ob es wirklich Christus ist“ (Origenes, Fragmente). Diese Deutung deckt sich mit meinem Verständnis von Glauben als geprüftem Vertrauen – wie es in 1. Thessalonicher 5,21 gefordert wird: „Prüft alles, das Gute behaltet.“

Thomas antwortet mit einer doppelten, personalen Anrede: „Mein Herr und mein Gott!“ (V. 28). Für Raymond Brown ist das „die höchste christologische Aussage im gesamten Evangelium“ (Brown, John). Köstenberger sieht darin die „theologische Kulmination des gesamten Evangeliums“ (Köstenberger, John). Ich sehe darin kein Dogma, sondern ein existenzielles Bekenntnis. Es ist die Reaktion auf die Realität des Gekreuzigten, der lebt – mit Wunden, nicht ohne.

Jesus’ abschließende Worte in Vers 29 bringen Spannung und Trost zusammen: „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben“. Das ist kein Vorwurf, sondern eine Ausweitung: Der Glaube der kommenden Generationen ist nicht zweitrangig – er ist selig. Hier wendet sich das Evangelium offen der Gemeinde zu, die glaubt durch das Wort – durch das Hören, nicht durch das Sehen (vgl. Römer 10,17).

Für mich bringt dieser Satz eine Spannung auf den Punkt: Wir leben im Glauben, nicht im Schauen – und doch ist dieser Glaube nicht leer, sondern getragen von dem, was bezeugt ist. Der sichtbare Jesus ist nicht mehr da – aber der verheißene Christus bleibt. Nicht durch Erscheinung, sondern durch Wort und Geist.

Was bleibt? Vielleicht das: Glauben heißt, verwundete Hände zu sehen und dennoch gesendet zu werden. Es ist kein triumphaler Glaube, sondern ein tastender. Einer, der sich berühren lässt. Und einer, der berührt.

Die Türen sind immer noch verschlossen. Aber er tritt hindurch. Friedlich. Still. Mit Wunden.

Und wir?

Können wir glauben, ohne zu sehen – und wenn ja, was erwarten wir dann zu sehen, wenn wir glauben?

Zentrale Punkte der Ausarbeitung

  1. Glaube beginnt mit Ehrlichkeit – nicht mit Beweisen. – Die Geschichte von Thomas zeigt: Nicht der Zweifel ist das Problem – sondern das Schweigen darüber. Was ihn zum Zeugen macht, ist nicht sein Verstand, sondern sein Mut, auszusprechen, was viele nur denken. – Jesus reagiert nicht mit Vorwurf, sondern mit Gegenwart. Er kommt dem Zweifel entgegen – mit seinen Wunden.
  2. Johannes stellt Thomas bewusst ins Zentrum – als Einladung an die, die nicht sehen. – Der Evangelist will keine Anekdote erzählen, sondern eine Brücke bauen: Zwischen denen, die dabei waren, und denen, die glauben sollen – obwohl sie nicht dabei waren. – Thomas wird so zur Figur, in der wir uns wiederfinden können – nicht als Vorwurf, sondern als Ermutigung.
  3. Der Auferstandene bleibt verwundet – und das ist entscheidend. – Jesus kommt mit offenen Narben. Er blendet nicht, er verbirgt nicht. Die Wunde ist kein Defizit – sie ist das Erkennungsmerkmal. – Das sagt etwas über die Art, wie Gott sich zeigt: nicht im Triumph, sondern in Verletzlichkeit. Nicht überhöht, sondern zugänglich.
  4. Sendung beginnt nicht mit Kraft – sondern mit Atem. – Als Jesus die Jünger sendet, haucht er sie an (Joh 20,22) – nicht mit Feuer, sondern mit Nähe. Das erinnert an Genesis 2,7: Gott haucht Leben ein. – Das zeigt: Gemeinde entsteht nicht aus Strategie, sondern aus Begegnung. Aus einem Atemzug, nicht aus einem Plan.
  5. Verkündigung bedeutet: sichtbar machen, was unsichtbar bleibt. – In Johannes 20,29 steht am Ende die Seligpreisung: „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.“ Das ist kein Tadel – sondern ein Zuspruch. – Glauben ohne Sehen ist nicht weniger wert – sondern die Realität für alle, die heute glauben wollen. Johannes schreibt genau dafür sein Evangelium.

Warum ist das wichtig für mich?

  • Weil es mir erlaubt, ehrlich zu glauben. Ich muss meinen Zweifel nicht unterdrücken, um dazugehören zu dürfen. Gott hält ihn aus – und nimmt ihn ernst. Ehrlichkeit ist kein Hindernis für Glauben – sie ist der Boden, auf dem er wachsen kann.
  • Weil es mir eine neue Sicht auf Glaube gibt. Glaube ist nicht dasselbe wie Sicherheit. Es geht nicht darum, alles zu wissen – sondern darum, dem zu vertrauen, der sich zeigt. Und manchmal zeigt er sich in Wunden – nicht in Antworten.
  • Weil es mich in Bewegung bringt. Jesus sendet nicht nur die „starken Gläubigen“. Er sendet Verwundete, Verunsicherte – aber durch seinen Geist Getragene. Das heißt: Ich bin Teil von etwas Größerem – auch mit meinen Fragen.
  • Weil es mich neu erinnert, wer Jesus ist. Er kommt mit Wunden. Er ist nicht fern, nicht unberührt. Und das verändert alles. Ich muss ihn nicht beweisen – ich darf ihn bezeugen. Und das beginnt mit dem Mut, ehrlich zu bleiben.

Der Mehrwert dieser Erkenntnis

  • Ich kann meine Glaubenszweifel als Teil meines Weges annehmen – nicht als Störung.
  • Ich lerne, mich nicht mehr mit anderen zu vergleichen, sondern meine eigene Glaubensgeschichte ernst zu nehmen.
  • Ich erkenne, dass Gottes Nähe nicht an meine Leistung geknüpft ist – sondern an seine Bereitschaft, mir zu begegnen.
  • Ich erfahre, dass Wahrheit nicht immer sichtbar, aber spürbar wird – dort, wo Beziehung entsteht.

Kurz gesagt: Wenn der verwundete Christus mir begegnet, dann bedeutet das: Ich darf verwundet glauben – ehrlich, offen, getragen. Und genau da beginnt echte Nachfolge.