Es ist Ende September. Draußen liegt noch ein Hauch Spätsommer in der Luft, aber im Supermarkt lächeln mich schon seit einigen Wochen die ersten Zimtsterne an. Lebkuchen zwischen Grillkohle – diese absurde Mischung kennt wohl jeder. Und wieder denke ich: viel zu früh. Gleichzeitig merke ich, wie alt dieser Gedanke schon ist. Irgendwann hat sich der Rhythmus verschoben – Weihnachten kommt jedes Jahr früher: als Deko, als Playlist, als Sonderangebot.
Ich ertappe mich beim Kopfschütteln – und gleichzeitig bei einer Frage: Vielleicht ist gerade jetzt, im September, der richtige Moment, diese Geschichte neu zu bedenken. Nicht, weil man schon Geschenke besorgen müsste, sondern weil wir sonst viel zu schnell im Dezember vom Weihnachtskitsch überrollt werden.
Ich habe mir vorgenommen, Kapitel für Kapitel durch Ellens Das Leben Jesu zu gehen. Nicht wissenschaftlich-distanziert, sondern so, dass Herz und Alltag berührt werden. Ball flach halten, Worte klar halten, das Eigentliche sichtbar machen. Heute bin ich bei Kapitel 4 angekommen: „Euch ist heute der Heiland geboren“ (Lk 2,1–20).
Als ich beginne, kommt eine Erinnerung hoch – meine Zeit in Sagunto während des Studiums. Eine Lehrerin hatte lange ein Projekt auf dem Herzen: eine lebendige Weihnachtsgeschichte auf dem Campus. Ich durfte dabei sein, als sie zum ersten Mal umgesetzt wurde. Jahr für Jahr wurde sie größer, feiner, eindrucksvoller.
Das ganze Gelände war dekoriert. Auf einem Weg ging man von Szene zu Szene: Hirten am Feuer, Engel mit weißem Stoff, Maria und Josef erschöpft, dazu Musik, kleine Dialoge, manchmal ein Chor. Es war wirklich schön. Ein Eintauchen in die Geschichte – romantisch, ergreifend. Ich erinnere mich gern daran. Und gleichzeitig spüre ich heute: Diese Romantik kann auch etwas verdecken.
Die letzte Station war natürlich die Krippe. Maria und Josef sangen ein Loblied, fast ein Magnifikat. Ein Bild von Klarheit, Schönheit, Anbetung. Aber war es so? Ja, es war himmlisch – Ellen beschreibt es in großen Bildern. Aber sie sagt auch: Selbst die Engel verstanden vieles nicht. Und ich frage mich: Wie viel weniger Maria und Josef? Vielleicht hatten sie Fragen, Müdigkeit, Unsicherheit. Vielleicht war der Stall nicht nur heilig, sondern auch eng, staubig, kalt.
Genau das macht mich neugierig: Wie ent-romantisiert liest sich diese Geschichte, wenn man sie mit Lukas und Ellen zusammen anschaut? Vielleicht ist der September der bessere Monat dafür – bevor die Schokolade uns zudeckt.
— Die vertraute Szene, entstaubt
Lukas beginnt überraschend: nicht mit einem Stall, sondern mit einem Kaiser. Ein Erlass von Augustus, der „die ganze Welt“ betrifft (Lk 2,1). Weltpolitik, Imperium, Kontrolle. Und dann die schroffe Verlagerung: von Rom nach Bethlehem, vom Palast zum Stall, von Dekreten zu Windeln.
Die Geburt Jesu steht bewusst im Kontrast zur großen Bühne. Der Schöpfer der Welt findet keinen Platz in der Herberge. Kein Protokoll, kein Empfang. Nur ein Kind, das kommt, wann es kommt – auch wenn es niemand erwartet.
Das Zeichen, das die Engel nennen, ist entwaffnend schlicht: „Ihr werdet ein Kind finden, in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegend“ (Lk 2,12). Kein Blitz, kein Sternenregen, sondern Alltagssymbole. Ein Baby. Eine Futterkrippe. Gott zeigt sich so, dass man ihn leicht übersehen kann.
— Das Zeichen, das uns entlarvt
Windeln als Beweis. Es ist fast ironisch. Man hätte erwartet: „Ihr werdet einen König sehen“, oder wenigstens: „Ihr werdet ein Wunder erleben.“ Aber nein: Windeln. Krippe. Armut.
Das trifft mich, weil es meine Maßstäbe infrage stellt. Ich bewerte Stärke nach Lautstärke, Glaubwürdigkeit nach Erfolg, Heiligkeit nach Glanz. Gott kehrt es um. Sein stärkstes Zeichen ist Schwäche.
Ellen sagt: „Die Herrlichkeit wurde absichtlich verborgen, damit die Menschen nicht vom Äußeren angezogen werden, sondern von der Wahrheit selbst“ (sinngemäß). Mit anderen Worten: Gott will keine Fans des Spektakels, sondern Nachfolger der Wahrheit.
Und ich frage mich: Woran erkenne ich heute Gottes Nähe? Warte ich auf das Spektakuläre – auf die perfekte Antwort, das glänzende Wunder – und übersehe ihn im Alltäglichen?
— Warum ausgerechnet Hirten?
Die Engel hätten ins Zentrum gehen können: nach Jerusalem, in den Tempel. Aber sie erscheinen Hirten. Menschen am Rand, oft verachtet, religiös kaum angesehen.
Ellen beschreibt sie anders: Suchende. Sie redeten miteinander über die Verheißungen, sie beteten um den Messias. Und genau da setzt Gott an. Nicht Status zählt, sondern Sehnsucht. Nicht Leistung, sondern Hunger nach Wahrheit.
Das ist unbequem. Ich merke, wie schnell ich geistlich „satt“ werde. Wie ich mich in Routinen einrichte, Pläne mache, Programme fülle. Und dann ist die Herberge voll – kein Platz für das Unerwartete. Man kann Glauben so gut verwalten, dass er keinen Raum mehr hat.
Die Hirten erinnern mich daran: Es braucht nicht Perfektion, sondern Offenheit.
— Die stille Invasion der Nähe
Die Engel verkünden große Freude und Frieden (Lk 2,10–14). Aber die Welt bleibt laut. Augustus regiert weiter, Steuern werden kassiert, Herbergen bleiben eng. Der Unterschied: Gott ist jetzt drin.
Ellen sieht die Geburt im Rahmen des großen Kampfes. Kein sicherer Plan, kein Theaterstück. Ein echtes Risiko. Christus kommt in eine geschwächte Menschheit, verletzlich, angreifbar. „Hierin ist die Liebe“ – Liebe, die nicht kalkuliert, sondern wagt.
Das verändert meine Sicht. Liebe, die kein Risiko eingeht, ist nett, aber nicht göttlich. Gottes Liebe ist riskant. Sie setzt sich aus. Sie macht sich klein. Sie wird verletzlich.
— Was das mit uns zu tun hat
Wenn die Krippe Programm ist, dann ist Nachfolge kein Glamour-Projekt. Im Gegenteil: kleiner werden, Raum schaffen, präsent sein.
Für mich heißt das konkret: Sabbat nicht als Aktivitäts-Tag, sondern als geschützten Raum leben. Weniger füllen, mehr lassen. Weniger Programm, mehr Begegnung. Sabbat als Stall: ein einfacher Ort, an dem Gott Platz hat.
Und Gemeinde? Sie ist keine Bühne, sondern eine Zeugnisgemeinschaft. So wie die Hirten: sehen, erzählen, zurückkehren. Nüchtern, schlicht, echt. Keine Show, kein Marketing – geteilte Begegnung. Das reicht.
— Offene Fragen für wache Herzen
- Wo suche ich Gott zuerst – im Glanz oder in der Nähe?
- Welche Räume in meinem Leben sind so voll, dass kein Platz für ihn bleibt?
- Wie kann ich den Sabbat konkret zu einem Stall der Ruhe machen?
- Bin ich noch suchend wie die Hirten – oder satt wie die Herberge?
- Wo darf ich schlicht erzählen, was ich erlebt habe – ohne Bühne, ohne Verpackung?
— Ein kleiner Anfang reicht
Lukas endet nüchtern: Die Hirten kehren zurück. Maria bewahrt die Worte in ihrem Herzen (Lk 2,19–20). Keine Sensation, kein Feuerwerk. Nur Alltag – verändert durch Begegnung.
Vielleicht ist das genau die Einladung dieser Geschichte – und dieses Septembers: Nicht auf Glanz warten. Sondern einen freien Platz lassen. Ein Gebet, ein Gespräch, ein stiller Moment. Ein kleines „Lasst uns gehen und sehen.“
Gott hat sich nicht in den Himmel zurückgezogen. Er hat sich für unsere Nähe entschieden. Nähe braucht keinen Glamour. Nur Raum.
Das genügt.
