Psalm 55,23 Nicht alles musst du tragen → Überlass alle deine Sorgen dem Herrn! Er wird dich wieder aufrichten; niemals lässt er den scheitern, der treu zu ihm steht.

Fettgedrucktes für schnell Leser…

Einleitender Impuls:

Also… ich will dir kurz was sagen, was du vielleicht heute brauchst: Du musst das nicht allein wuppen. Echt nicht. Ich weiß, dieser Vers klingt erstmal wie eine religiöse Postkarte – „Wirf deine Last auf den Herrn“ – aber hier geht’s nicht um Schönschrift, sondern um Überleben. Das Wort, das da im Hebräischen steht – hašlēk – heißt nicht „leg ab“ oder „bitte freundlich darum“. Es heißt: Wirf. Mit Wucht. Mit Entschlossenheit. Als ob du was Brennendes in der Hand hast.

Und was genau sollst du werfen? Nicht die Umstände selbst – die kriegst du nicht geworfen. Sondern das, was sie in dir auslösen. Die Angst. Das Gedankenkarussell. Dieses konstante „Ich muss das hinkriegen“. All das darf zu Gott. Wirklich. Und wenn du dich fragst, was dann passiert: Der Text sagt nicht, dass Gott dir den Rucksack wieder zurückgibt – sondern dass er dich trägt. Da steht: Er wird dich aufrichten. Wörtlich: Er hält dich. Stabilisiert dich.

Und ja, das ist eine Zumutung an den Stolz – aber eine Befreiung für die Seele. Nicht dass du keine Lasten mehr hättest. Aber sie sind nicht mehr das Letzte. Du bist nicht allein unterwegs. Und wenn du gerade denkst, „aber ich fühl das nicht“ – dann lies bitte den ganzen Psalm. David fühlt es auch nicht – er wirft trotzdem.

Wo in deinem Leben versuchst du, etwas zu tragen, das längst geworfen gehört?

Diese Frage ist unbequem. Weil wir oft aus Angst festhalten – aber Vertrauen beginnt da, wo wir loslassen. Und manchmal geht das nur, wenn uns jemand erinnert: Du bist gehalten – auch wenn du fällst.

Fragen zur Vertiefung oder für Gruppengespräche:

  1. Wo versuchst du, etwas zu tragen, das gar nicht in deine Hände gehört? Diese Frage öffnet einen Raum für ehrliche Selbstbeobachtung – nicht alles, was uns belastet, gehört automatisch zu unserer Verantwortung.
  2. Wie leicht fällt es dir, mit Gott über Dinge zu sprechen, die dich ängstigen oder beschämen? Hier geht es darum, die eigenen Gebetsgewohnheiten zu reflektieren – und sich zu fragen, ob wirklich alles Platz hat, auch das Schwere und Unfertige.
  3. Was wäre, wenn Vertrauen nicht bedeutet, alles im Griff zu haben – sondern loszulassen, obwohl du es nicht fühlst? Diese Frage will dich einladen, Vertrauen nicht als Leistung zu verstehen, sondern als Bewegung – mitten im Chaos.

Parallele Bibeltexte als Slogans mit Anwendung:

1. 1. Petrus 5,7 – „Leg ab, was dich auffrisst.“ → Du darfst deine Sorge nicht nur denken – du darfst sie loswerden. Gott nimmt sie nicht übel, sondern auf.

2. Psalm 42,6 – „Sprich mit deiner eigenen Seele.“ → Selbstparänese ist kein spirituelles Selbstgespräch, sondern eine Form geerdeter Hoffnung.

3. Matthäus 11,28 – „Komm müde, nicht perfekt.“ → Jesus lädt nicht die Starken ein, sondern die Erschöpften – das ist die Mitte seiner Botschaft.

4. Jesaja 46,4 – „Ich trage – bis du alt bist.“ → Gottes Tragkraft endet nicht bei deiner Schwäche, sondern beginnt dort erst richtig.

Nimm dir Zeit. Vielleicht 20 Minuten. Lies die Ausarbeitung ganz. Nicht, um alles zu verstehen – sondern um dich zu erinnern, dass Gott dich sieht. Und hält.

Ausarbeitung zum Impuls

Lass uns ruhig werden und mit einem kurzen Gebet starten.

Liebevoller Vater, danke, dass du uns immer wieder Raum gibst, ehrlich zu sein. Auch heute. Danke, dass du nicht wegschaust, wenn wir verletzt oder müde sind. Danke, dass du uns nicht überforderst mit Lösungen, sondern dich einfach einlädst – mitten in das, was in uns gerade laut ist. Danke, dass du ein Gott bist, dem wir sogar unsere Lasten „hinwerfen“ dürfen, wie es da in Psalm 55 steht. Das ist nicht besonders elegant, aber ehrlich – und du kommst damit klar. Danke für dein Versprechen, dass du uns trägst, wenn wir’s selbst nicht können. Und dass du Unrecht nicht vergisst. Nicht aus Rache, sondern weil dir Gerechtigkeit nicht egal ist.

Sei jetzt mitten unter uns, während wir in diesen Text eintauchen. Wir wollen dich hören.

Im Namen Jesu,

Amen.

Dann lass uns jetzt gemeinsam reinschauen – wir starten mit der Ausarbeitung.

Persönliche Identifikation mit dem Text und der Ausarbeitung:

In diesem Ersten Abschnitt geht es nicht darum, den Text zu erklären – sondern ihm zuzuhören. Es ist eigentlich der Letze schritt der Ausarbeitung gewesen, der den Ich nach allen anderen Schritten gegangen bin, die du danach lesen kannst… Ich versuche den Text zu sehen, zu hören zu fühlen und stelle mir die leisen, ehrlichen „W“-Fragen: Was spricht mich an? Was bleibt unausgesprochen? Warum bewegt mich das gerade jetzt? Ich frage mich, wie dieser Vers meinen Alltag berühren kann – nicht theoretisch, sondern greifbar. Und ich spüre nach, was das mit meinem Glauben macht – ob es trägt, fordert, tröstet oder alles zugleich. Am Ende suche ich nicht die perfekte Antwort, sondern eine aufrichtige Reaktion: Was nehme ich mit – ganz persönlich, im Herzen, im Leben, im Blick auf Gott.

Also, bereit?

Wenn ich über Psalm 55,1–24 spreche, dann rede ich nicht über einen theologischen Text, sondern über ein seelisches Dokument. Ein Gebet, das keucht. Kein Psalm für gelassene Spaziergänge im Garten Eden, sondern für Nächte, in denen man den Rücken zur Tür dreht – nicht aus Trotz, sondern aus Erschöpfung. David klingt hier nicht wie ein König, sondern wie ein Mensch. Und das ist vielleicht das Befreiendste an diesem Text: Er macht keine Helden aus seinen Beterinnen und Betern. Er lässt sie einfach da sein – mit Herzrasen, Zittern, innerer Unruhe.

Und genau da kommen die Fragen, die ich aus seelsorgerlichen Gesprächen nur zu gut kenne. Nicht als theologisches Interview – sondern als ehrliches Innenleben. „Was, wenn ich nicht stark genug bin?“ – „Was, wenn ich nur noch weglaufen will?“ – „Darf man so mit Gott reden?“ – „Gilt das auch, wenn ich nicht mehr glaube, dass er eingreift?“ – Oder, ganz schlicht: „Was mache ich mit dieser Panik in meiner Brust?“

Ich höre sie oft – nicht dramatisch, nicht laut, sondern meist zwischen den Zeilen. Und Psalm 55 scheint sie zu kennen. „Furcht und Zittern kommt mich an, und Schauder bedeckt mich“ (Vers 6). Das ist kein inneres Drama – das ist ein Realzustand. Und trotzdem wird es ausgesprochen. Nicht kontrolliert, nicht zurechtgerückt. Einfach raus damit.

Vielleicht ist das schon der erste Trost: Dass man mit Gott reden darf, wenn die Stimme zittert. Wenn man nicht weiß, ob man klagt, flieht oder sich einfach nur hinlegt. Und dass da ein Vers steht wie Psalm 55,23 – dieser Imperativ: „Wirf auf den HERRN deine Last.“ Nicht: Er wird sie schon irgendwie mittragen. Nein: Du darfst sie aktiv loswerden. Mit Wucht. Mit Absicht.

Aber was bedeutet das konkret? Wie „wirft“ man auf Gott? Es ist eine dieser Fragen, die mir oft gestellt wird – manchmal mit leiser Hoffnung, manchmal mit Skepsis. Und ich verstehe das. Denn Glauben ist oft kein sanfter Weg – sondern ein Ringen mit der Unsichtbarkeit Gottes. Doch vielleicht ist genau dieses „Werfen“ kein einmaliger Akt, sondern ein Lebensstil. Ein Einüben des Vertrauens. Kein Trick gegen die Angst – aber ein Schritt in die Richtung, dass sie nicht das letzte Wort hat.

Ein anderes Gespräch bleibt mir besonders im Kopf: Jemand sagte, „Ich weiß, dass Gott gut ist – aber warum fühlt sich das so oft nicht so an?“ Und ich hatte keine fertige Antwort. Aber Psalm 55 hilft, das auszuhalten. Denn er verbindet Klage und Vertrauen – nicht als Gegensatz, sondern als zwei Stimmen derselben Seele. Wie in Vers 18: „Abends und morgens und mittags will ich klagen und stöhnen – und er hört meine Stimme.“ Das ist kein liturgischer Stundenplan, sondern ein Ausdruck dafür, dass man sich immer wieder neu entscheiden muss, Gott das Herz hinzuhalten.

Manche fragen auch: „Gilt das auch, wenn ich nicht treu bin?“ Und die Angst hinter dieser Frage ist real. Doch der Text spricht nicht von der Treue der Betenden, sondern von der Treue Gottes. Es geht nicht darum, dass ich stark bleibe – sondern dass ich nicht allein bleibe.

Und dann ist da diese eine Zeile, die hängen bleibt: „Er wird den Gerechten nicht wanken lassen.“ Das klingt zunächst wie eine hohe Messlatte. Doch die Auslegung zeigt: „Gerecht“ meint hier nicht „fehlerlos“ – sondern „verbunden“. Wer Gott sucht, wer bei ihm bleibt, darf sich getragen wissen – nicht weil er perfekt glaubt, sondern weil er Gott Raum gibt in seiner Unvollkommenheit.

Ich frage mich oft: Was, wenn diese Psalmen eigentlich gar keine Lösungen bieten, sondern Erlaubnis? Erlaubnis, zu weinen. Zu schreien. Und dann irgendwann, vielleicht leise, einen kleinen Satz wie Vers 23 zu sprechen – nicht als Held, sondern als Hoffender. Und dieser Satz macht alles anders, weil er nicht fordert, sondern einlädt.

Vielleicht ist das das Evangelium im Psalter: Dass Gott nicht nur redet, wenn wir stark sind – sondern auch, wenn wir zittern.

Wenn du dich da wiederfindest, dann lies weiter – die Ausarbeitung nimmt dich mit hinein. Nicht in eine fertige Antwort, aber in eine tragfähige Hoffnung.

Der Text:

Zunächst werfen wir einen Blick auf den Text in verschiedenen Bibelübersetzungen. Dadurch gewinnen wir ein tieferes Verständnis und können die unterschiedlichen Nuancen des Textes in den jeweiligen Übersetzungen oder Übertragungen besser erfassen. Dazu vergleichen wir die Elberfelder 2006 (ELB 2006), Schlachter 2000 (SLT), Luther 2017 (LU17), Basis Bibel (BB) und die Hoffnung für alle 2015 (Hfa).

Psalm 55,23

ELB 2006 Wirf auf den HERRN deine Last, und er wird dich erhalten; er wird für ewig nicht zulassen, dass der Gerechte wankt.

SLT Wirf dein Anliegen auf den HERRN, und er wird für dich sorgen; er wird den Gerechten in Ewigkeit nicht wanken lassen!

LU17 Wirf dein Anliegen auf den HERRN; der wird dich versorgen und wird den Gerechten in Ewigkeit nicht wanken lassen.

BB Übergib dem HERRN deine Last! Er selbst wird für dich sorgen! Zu keiner Zeit wird er zulassen, dass der Gerechte zu Fall kommt.

HfA Überlass alle deine Sorgen dem Herrn! Er wird dich wieder aufrichten; niemals lässt er den scheitern, der treu zu ihm steht.

Der Kontext:

In diesem Abschnitt geht es darum, die grundlegenden Fragen – das „Wer“, „Wo“, „Was“, „Wann“ und „Warum“ – zu klären. Das Ziel ist es, ein besseres Bild von der Welt und den Umständen zu zeichnen, in denen dieser Vers verfasst wurde. So bekommen wir ein tieferes Verständnis für die Botschaft, bevor wir uns den Details widmen.

Kurzgesagt… Psalm 55 ist das Gebet eines Menschen, der nicht mehr weiß, wohin mit sich selbst. Außen tobt die Feindschaft, innen der Schmerz – und mittendrin ein Gott, an den man sich trotzdem klammert. Es geht um Verrat, Bedrohung und Vertrauen, alles gleichzeitig. Der Vers 23 ist wie ein letzter fester Griff, wenn alles ins Rutschen gerät.

Previously on Psalm 55… Wir hören hier David – zumindest legt die Überschrift das nahe –, und es ist kein guter Tag. Es gibt Drohungen von außen, das soziale Gefüge wackelt, und das Schlimmste: Ein enger Vertrauter hat ihn hintergangen. Das ist nicht einfach irgendein Konflikt – das ist dieser Moment, in dem man merkt, dass man dem Falschen vertraut hat. Es geht ans Eingemachte. Der Text ist keine wohlgeformte Andacht, sondern eher ein innerer Monolog, der immer wieder zwischen Verzweiflung und Hoffnung pendelt. David beschreibt, wie die Stadt von Gewalt und Unrecht durchzogen ist, wie er von Angst geschüttelt wird, wie gern er einfach abhauen würde. Der Ton ist emotional zerrissen, fast schon atemlos. Und genau in diese Dynamik hinein ruft er zu Gott – nicht glatt, nicht perfekt, sondern ehrlich und brüchig.

Die geistige Lage? Nicht ganz einfach. David sieht sich von Menschen umgeben, die Intrigen spinnen, Worte wie Waffen einsetzen, und zwar nicht nur im Feindesland, sondern in der eigenen Stadt, möglicherweise sogar im Tempelbereich. Jerusalem, die Stadt Gottes, fühlt sich nicht mehr wie Zuflucht an, sondern wie ein Pulverfass. Und mittendrin sitzt er, betet, klagt, hofft. Der religiöse Rahmen? David ist nicht nur König, sondern auch geistlicher Mensch – sein Glaube ist sein Kompass, auch wenn dieser gerade ziemlich heftig eiert. Was Psalm 55 zeigt: Glaube bedeutet nicht, dass alles okay ist. Sondern, dass man trotzdem mit Gott redet. Und zwar alles – auch das, was man sonst lieber runterschluckt. Der Anlass des Textes scheint ein konkreter Verrat zu sein, vielleicht durch Ahithophel, den einst vertrauten Berater, der sich Absalom anschloss (vgl. 2. Sam 15–17). Das gibt dem Ganzen biografisches Gewicht – das hier ist nicht Theorie, sondern echte Lebensgeschichte.

Was bleibt, ist Spannung: Vertrauen und Angst, Glaube und Wut, Hoffnung und Fluchtgedanken stehen unkommentiert nebeneinander. Und Gott? Der wird nicht erklärt, sondern angerufen. Mitten im Chaos. Genau da platziert sich auch Vers 23 – als ein letzter Satz der Entschlossenheit: „Ich werf das jetzt alles auf dich, Gott – und ich hör nicht auf, dir zu vertrauen.“

Im nächsten Schritt schauen wir uns die Schlüsselwörter des Textes genauer an – besonders das, was mit „Last“, „werfen“, „erhalten“ und „wanken“ gemeint ist. Da steckt mehr drin, als man auf den ersten Blick sieht.

Die Schlüsselwörter:

In diesem Abschnitt wollen wir uns genauer mit den Schlüsselwörtern aus dem Text befassen. Diese Worte tragen tiefere Bedeutungen, die oft in der Übersetzung verloren gehen oder nicht auf den ersten Blick ersichtlich sind. Wir werden die wichtigsten Begriffe aus dem ursprünglichen Text herausnehmen und ihre Bedeutung näher betrachten. Dabei schauen wir nicht nur auf die wörtliche Übersetzung, sondern auch darauf, was sie für das Leben und den Glauben bedeuten. Das hilft uns, die Tiefe und Kraft dieses Verses besser zu verstehen und ihn auf eine neue Weise zu erleben.

Psalm 55,23 – Ursprünglicher Text (Biblia Hebraica Stuttgartensia):

הַשְׁלֵ֤ךְ עַל־יְהוָ֨ה׀ יְהָבְךָ֮ וְה֪וּא יְכַ֫לְכְּלֶ֥ךָ לֹא־יִתֵּ֖ן לְעוֹלָ֥ם מ֗וֹט לַצַּדִּֽיק׃

Übersetzung Psalm 55,23 (Elberfelder 2006):

Wirf auf den HERRN deine Last, und er wird dich erhalten; er wird für ewig nicht zulassen, dass der Gerechte wankt.

Semantisch-pragmatische Kommentierung der Schlüsselwörter

  • הַשְׁלֵךְ (hašlēḵ) – „wirf“: Hifil-Imperativ von שׁלך (šālaḵ), ein starker Ausdruck für „werfen“, „niederwerfen“, „loswerden“. In poetischen Texten oft als dramatischer Impuls: nicht ablegen, sondern hinausschleudern, als wäre die Last zu heiß, zu schwer, zu gefährlich, um sie noch länger zu tragen. In Verbindung mit Gott wird daraus fast eine paradoxe Bewegung: Ich schmeiße Gott meine innersten Kämpfe vor die Füße – nicht respektlos, sondern ehrlich. Pragmatisch spricht der Imperativ von einer inneren Notwendigkeit, nicht von höflicher Option.
  • יְהָבְךָ (yəhāḇəḵā) – „deine Last“: Das Wort yehāḇ kommt im AT nur hier und in 1. Petrus 5,7 (gr. μετάθετε ἐπ᾽ αὐτόν πᾶσαν τὴν μέριμναν ὑμῶν) vor – mit Bezug auf diesen Vers. Seine Herkunft ist unsicher. Es kann Last, Anteil, Zuweisung oder gegebenes Schicksal bedeuten. Es ist also nicht nur das, was schwer ist, sondern auch das, was dir zufällt. Das kann Berufung sein, aber auch die Zumutung des Lebens. Es trägt in sich die Ambivalenz von Aufgabe und Belastung – du bekommst sie, aber du kannst sie nicht behalten.
  • יְכַ֫לְכְּלֶ֥ךָ (yəkalkəlekā) – „er wird dich erhalten“: Von כוּל (kûl), in der Pi’el-Form: „tragen“, „versorgen“, „versorgen und durchhalten lassen“. Anders als bei nasa‘ („heben“) oder sāʿad („stützen“) hat kûl einen internen Halt im Blick – nicht äußerlich getragen werden, sondern inwendig getragen sein. Die Form ist intensiviert: Gott „versorgt dich nicht nur“, er hält dich innerlich zusammen, wenn du auseinanderzufallen drohst. Nicht Reparatur, sondern Versorgungskraft.
  • יִתֵּ֖ן מ֗וֹט (yittēn môṭ) – „zulassen, dass wankt“: Das Verb נתן (nātan) ist hier negativ gebraucht: „nicht geben, nicht zulassen“. Môṭ heißt „wanken, erschüttert werden“, und meint ein Verlieren des Gleichgewichts, ein Instabilwerden in der Lebensführung. Pragmatisch betont die Kombination: Gott gibt dem Wanken keine Erlaubnis. Das ist keine Garantie für Glück – aber für Stabilität unter Druck. Die Formulierung ist bewusst vage: nicht wann oder wie, sondern dass er nicht zulässt, dass der ṣaddîq dauerhaft fällt.
  • לַצַּדִּֽיק (laṣṣaddîq) – „dem Gerechten“: saddîq ist kein moralisches Idealbild, sondern jemand, der in Beziehung zu Gott recht lebt. Es ist ein Bundesbegriff. Wer ṣaddîq genannt wird, steht nicht auf dem Podest, sondern unter Gottes Schutz. Das Versprechen gilt also denen, die sich an Gott binden, nicht denen, die perfekt sind. Der Vers ist damit kein Leistungsversprechen, sondern ein Beziehungsversprechen.

Weiter geht’s nun mit dem theologischen Kommentar: Wir tauchen ein in das, was der Vers über Gottes Wesen, unser Vertrauen und das innere Ringen im Glauben offenbart.

Ein Kommentar zum Text:

Theologische Grundlage

Bevor du weiterliest: Nimm dir einen Moment Zeit, Psalm 55 als Ganzes zu lesen – am besten in der Elberfelder oder Schlachter-Übersetzung. Und dann diesen einen Vers: „Wirf auf den HERRN deine Last, und er wird dich erhalten; er wird für ewig nicht zulassen, dass der Gerechte wankt“ (Psalm 55,23). Dies ist kein Psalm für gute Zeiten – sondern ein Ruf aus dem Sturm. Und dieser Vers ist keine Ratgeberzeile. Es ist eine Gewissheitsformel im Chaos.

Psalm 55 ist kein Loblied. Er ist ein Notruf. David ruft – nicht weil er die Lage im Griff hat, sondern weil sie ihn aus der Bahn wirft. Verrat aus dem engsten Kreis, psychische Erschütterung, Fluchwünsche, Isolation – dieser Psalm hält nichts zurück. Und mittendrin, fast überraschend, dieser Imperativ: hašlēk ʿal-YHWH yəhobkāWirf auf den HERRN deine Last. Keine Einladung. Kein Vorschlag. Ein Befehl. Und das macht es unbequem.

Die Formulierung hašlēk – (הַשְׁלֵךְ, Imperativ Hif’il von šālak, „werfen“) – ist grammatisch eindeutig: Es ist eine bewusste, aktive Entscheidung. Nicht affektgesteuert. Nicht reflexartig. Der Mensch wird aufgefordert, inmitten von Erschütterung zu handeln. Das ist geistlich relevant, weil es bedeutet: Glaube beginnt nicht mit Frieden, sondern mit Bewegung. Du kannst deine Last zuordnen – auch wenn du sie nicht lösen kannst.

Das nächste Wort im Satz vertieft diesen Gedanken: yəhobkā – deine Last. Der Begriff yəhāb (יְהָב) ist im gesamten Alten Testament extrem selten und kommt in dieser Form nur hier vor. Die genaue Bedeutung ist unklar – manche übersetzen mit „Bürde“, andere mit „Sorge“. Was sicher ist: Es geht nicht einfach um äußere Umstände. Es geht um das, was diese Umstände im Inneren des Menschen auslösen. Die Last ist persönlich, drückend, mitgetragenes Innenleben. Was Gott tragen soll, ist nicht die Situation – sondern das Gewicht, das sie in dir erzeugt.

Das ist nicht nur seelsorgerlich relevant, sondern auch exegetisch tragfähig. C. Hassell Bullock unterstreicht, dass dieser Psalm nicht wegen äußerer Veränderung zur Ruhe kommt, sondern durch eine innere Neuverortung: „The psalmist moves from panic to prayer to peace – but not because his circumstances changed, but because his perspective did“ (Bullock, Psalms, Volume 2). Das meint: Die Welt bleibt brüchig – aber das Vertrauen wird tragfähig.

Auch das Folgeverb ist nicht passiv. yəḵalkəlekā – (יְכַלְכְּלֶךָ, Piʿel von kālál) bedeutet nicht „er wird dich beruhigen“, sondern: „Er wird dich durchtragen, erhalten, versorgen.“ Es ist die verstärkte Form eines aktiven Verhaltens Gottes. Kein sentimentales Trösten – sondern eine tragende Realität. Und diese Realität hat eine Bedingung: Der Mensch muss vorher loslassen. Gott trägt nur, was man ihm übergibt. Das ist kein Automatismus – es ist ein geistlicher Wechsel des Trägers.

Hier liegt auch eine theologische Linie, die ich als adventistischer Theologe bewusst stark mache: Gott ist nicht primär Problemlöser – sondern Träger. Als jemand, der in der biblischen Hoffnung auf das Noch-Nicht der Vollendung lebt, vertraue ich darauf, dass Gott nicht alle Krisen verhindert – aber dass er durchträgt. Unsere Theologie spricht hier vom eschatologischen Zwischenraum: Das Reich Gottes ist angebrochen, aber noch nicht vollendet. Wir leben in der Spannung zwischen Verheißung und Vollendung – nicht in deren Auflösung. Und genau da setzt dieser Vers an.

Die nächste Formulierung führt weiter: „Er wird den Gerechten in Ewigkeit nicht wanken lassen.“ Das hebräische môṭ – (מוֹט) bedeutet nicht „fallen“, sondern „wanken, ins Rutschen geraten“. Es beschreibt Instabilität. Der Vers sagt nicht, dass der Gerechte nicht erschüttert wird – sondern, dass sein Wanken nicht zum Fall wird. Und auch hier lohnt es sich, das Wort ṣaddîq – (צַדִּיק) – genau zu fassen. Der „Gerechte“ ist nicht der Perfekte, sondern der, der unter Gottes Maßstab lebt. Gerechtigkeit ist nicht Leistung – sondern Ausrichtung.

John Goldingay bringt diese Spannung stark zur Sprache. Für ihn ist Psalm 55 kein linearer Weg von Klage zu Vertrauen, sondern ein „prayer in conflict“ – ein Gebet in Spannung (Goldingay, Psalms, Volume 2). Das ist wichtig, weil es verhindert, dass wir den Vers als triumphalistisches Glaubensstatement missverstehen. Der Psalm betet sich nicht in den Frieden – er lebt im Dazwischen. Und genau dort trägt Gott.

Auch Keil & Delitzsch ordnen diesen Vers theologisch nicht als Abschluss, sondern als Wendepunkt ein. Sie schreiben: „Gott lässt nicht zu, dass der Gerechte zur Beute des Bösen wird. Was er trägt, das fällt nicht.“ (Keil & Delitzsch, Biblischer Kommentar über die Psalmen). Diese Deutung ist kein Heilsautomatismus. Sie ist ein Ausdruck der biblischen Heilsordnung, in der Gerechtigkeit und Treue Gottes zusammengehören. Gott lässt nicht los, was sich ihm anvertraut.

Nancy deClaissé-Walford erkennt im Vers 23 eine sogenannte Selbstparänese – also eine Aufforderung des Beters an sich selbst. Wie in Psalm 42,6 („Was betrübst du dich, meine Seele…“) wird der Glaube nicht dekretiert, sondern zugerufen – als Widerstand gegen das eigene innere Wanken (deClaissé-Walford et al., The Book of Psalms). Sie sieht in Psalm 55 eine bewusst chiastisch angelegte Struktur, bei der Vers 23/24 als Antwort auf das frühere „Fluchtmotiv“ steht. Gebet ersetzt nicht die Flucht – es ist die andere Form, ihr zu begegnen.

Herman Selderhuis sieht im Imperativ „Wirf“ eine handlungsleitende Ethik. Vertrauen ist keine Haltung, sondern eine Entscheidung: „Vertrauen ist nicht nur eine Haltung – es ist eine Handlung“ (Selderhuis, Psalmen – Reformationsauslegung). Auch wenn ich persönlich nicht jede ethische Engführung teile, ist diese Beobachtung hilfreich: Vertrauen ist kein Gefühl, sondern ein Vollzug. Wer wartet, bis er fühlt, wird nie werfen. Wer wirft, beginnt zu glauben – manchmal trotz seines Gefühls.

Tremper Longman III bringt Psalm 55,23 in Verbindung mit Jesaja 46,4: „Ich will tragen und erretten“. Er schreibt: „This is not about handing off responsibility, but about relocating trust“ (Longman, Psalms). Das ist eine theologisch differenzierte Beobachtung. Vertrauen entbindet nicht von Verantwortung. Es verlagert den Ort der letzten Sicherheit – vom eigenen Herzen in Gottes Hand.

Bleibt noch ein letzter Blick: auf die neutestamentliche Rezeption. In 1 Petrus 5,7 heißt es: „Alle eure Sorgen werft auf ihn – denn er sorgt für euch.“ Das Wort „werfen“ verweist exakt auf Psalm 55,23. Aber Petrus setzt den Satz in die Mitte der Gemeinde – als kollektive Ermutigung in Bedrängnis. Bullock merkt zu Recht an, dass der neutestamentliche Gebrauch keine Neuerfindung ist – sondern eine „kontextuelle Fortschreibung“ des Psalms: Das Vertrauen wird zur gemeinsamen Praxis, nicht zur innerlichen Privatdisziplin.

Was bleibt? Psalm 55,23 ist nicht glatt. Nicht brav. Kein Wandvers. Er ist eine Gewissheitsformel im Chaos. Er verheißt nicht, dass alles gut wird – sondern dass das, was geworfen wird, gehalten wird. Der Gerechte wird nicht geschont – aber gestützt. Er mag zittern – aber nicht zerbrechen.

Wie viel Vertrauen braucht es, um zu werfen – wenn man sich selbst nicht mehr halten kann?

Und wie sieht dieses Werfen konkret aus – im Alltag, in der Krise, in der stillen Nacht?

Zentrale Punkte der Ausarbeitung

  1. Du musst nicht alles allein tragen – wirklich nicht.
    • Psalm 55,23 ist kein netter Trostsatz, sondern eine Handlungsaufforderung mit Verheißung. Das hebräische Verb „hašlēk“ bedeutet: Wirf! Nicht höflich ablegen, sondern loslassen mit Wucht.
    • Nicht die Umstände, sondern das, was sie in dir auslösen, soll zu Gott geworfen werden: Angst, Druck, Versagensgedanken.
  2. Gott will nicht nur informieren – er will tragen.
    • Der Text sagt nicht: Gott hilft dir beim Tragen. Er selbst trägt. Das ist mehr als Unterstützung – das ist ein Perspektivwechsel: Ich bin nicht der Retter meines eigenen Lebens.
    • „Er wird dich aufrichten“ meint nicht: alles wird sofort gut. Sondern: Du wirst nicht untergehen. Du bist gehalten.
  3. Loslassen ist kein Gefühl – sondern ein geistlicher Akt.
    • David „wirft“, obwohl er sich gerade nicht getragen fühlt. Das heißt: Vertrauen beginnt oft nicht mit Gewissheit, sondern mit Entscheidung.
    • Es ist okay, wenn dein Glaube gerade tastend ist. Der Psalm selbst lebt vom Spannungsfeld zwischen Klage und Vertrauen.
  4. Es geht nicht um Stärke – sondern um Vertrauen.
    • Der Text ist eine Einladung an unser überforderbares Ich. Nicht du musst stark sein. Gott ist es. Und er ist nicht beleidigt, wenn du schwach bist – im Gegenteil.
    • Manchmal zeigt sich geistliche Reife nicht im „Durchhalten“, sondern im mutigen Loslassen.
  5. Vertrauen beginnt dort, wo Stolz loslässt.
    • Die Zumutung liegt nicht in der Botschaft, sondern im Kontrollverlust. Wer wirft, gibt ab. Und wer abgibt, muss sich abhängig machen.
    • Genau das ist der Knackpunkt vieler innerer Widerstände – und zugleich der Schlüssel zur inneren Freiheit.

Warum ist das wichtig für mich?

  • Weil ich oft versuche, alles selbst zu lösen.
    • Diese Einladung entlarvt meinen inneren Antreiber: „Ich muss das schaffen.“ Aber Gott ruft nicht zur Selbstoptimierung – sondern zum Vertrauen.
  • Weil ich merke, wie sehr Sorgen mich lähmen können.
    • Wenn ich lerne, das, was in mir tobt, bewusst zu übergeben, entsteht wieder Raum – zum Atmen, Beten, Hoffen.
  • Weil ich Gottes Fürsorge oft eher glaube als lebe.
    • Dieser Vers ruft mich aus dem Kopfglauben ins Tun: Ich darf konkret abgeben, was mich innerlich auffrisst.
  • Weil ich im Alltag oft vergesse, dass ich nicht allein bin.
    • Gott ist keine Idee – er ist gegenwärtig, tragfähig und zugewandt. Und manchmal braucht es nur diesen einen Satz zur Erinnerung: „Du bist gehalten – auch wenn du fällst.“

Der Mehrwert dieser Erkenntnis

  • Ich lerne, emotional ehrlich vor Gott zu sein, statt mich hinter frommer Selbstkontrolle zu verstecken.
  • Ich erkenne, dass geistlicher Glaube nicht bedeutet, alles zu fühlen – sondern manches loszulassen, obwohl ich es nicht fühle.
  • Ich entdecke, dass Stärke im Glauben nicht im „Mehr-Tun“, sondern im „Loslassen-Können“ liegt.
  • Ich beginne, Sorge nicht als Schwäche, sondern als Einladung zur Gottesbeziehung zu verstehen.

Kurz gesagt: Psalm 55,23 ist kein Trostpflaster – sondern ein Wendepunkt.

Gott will nicht, dass du alles schaffst. Er will, dass du nicht untergehst. Und das macht einen Unterschied – mitten im echten Leben.