Ich hatte gedacht, die Studienreise würde Zeit bringen. Raum zum Schreiben, vielleicht ein paar fertige Kapitel. Ich hatte geplant, geordnet, vorausgedacht.
Doch stattdessen: Tage, die sich füllten. Gespräche, Begegnungen, Eindrücke – kaum Stille, kaum Rückzug. Und doch: viel Bewegung, innen.
Manchmal glaube ich, Gott führt uns genau in solche Zeiten, damit wir lernen, das, was wir wissen, nicht festzuhalten, sondern zu leben.
Nicht alles muss aufgeschrieben werden. Manches will gelebt werden, bevor es Worte findet.
Zurück zu Hause merkte ich: Ich bin nicht überfordert. Nur anders gefüllt.
Es ist nicht zu viel, was da auf mich wartet – es ist einfach lebendig. Und lebendig heißt: nicht kontrollierbar.
Mein Andachtsleben hat sich verändert. Früher war es klar strukturiert: früh aufstehen, lesen, ausarbeiten, schreiben.
Jetzt beginnt der Tag anders. Leiser. Mit Gebet. Mit Dank. Mit dem Wäschekorb in der Hand.
Ich sitze mit meinem Mate am Tisch, höre das leise Reden meiner Kinder, den ersten Schritt meiner Frau im Flur, und spüre: Das ist Gebet.
Kein Programm. Keine Aufgabe. Nur Gegenwart.
Und plötzlich begreife ich: Das ist kein Rückschritt. Es ist ein Schritt hinein.
Das Wort ist nicht weniger da – es hat nur seinen Platz gewechselt.
Vom Schreibtisch in die Küche.
Vom Bibeltext in den Augenblick.
Von der Theorie in das gelebte Jetzt.
Vielleicht ist das genau das, was Jesus meinte, als er vom Reich Gottes sprach: Es ist mitten unter euch.
Nicht nur in der Stille der Morgenandacht, sondern im Klang des Alltags.
Im Rascheln des Brotpapiers, im rhythmischen Takt der Waschmaschine, in der Geduld zwischen zwei Aufgaben.
Ich merke, wie heilig sich der Alltag anfühlen kann, wenn ich nicht mehr trenne zwischen geistlich und gewöhnlich.
Wenn ich das Spülgeräusch nicht als Unterbrechung sehe, sondern als Hintergrundmusik der Gegenwart Gottes.
Wenn der Atem selbst Gebet wird.
Früher dachte ich: Stille ist, wenn alles ruhig ist.
Heute denke ich: Stille ist, wenn ich höre, was schon spricht –
in mir, um mich, durch mich.
Und das verändert den Glauben.
Er wird weniger geplant, weniger kontrolliert, weniger produktiv.
Aber echter. Wärmer. Tiefer verwurzelt.
Ich merke, wie die Worte der Bibel auf einmal nicht mehr in meinem Kopf bleiben wollen. Sie suchen Gestalt.
Sie werden sichtbar in kleinen Gesten: in einem aufmerksamen Zuhören, einem ruhigen Ton, einem ehrlichen „Es tut mir leid“.
Die Theologie rutscht in die Hände. Und in die Füße.
Vielleicht ist das der wahre Sieg der Liebe:
Dass Glaube nicht mehr Wissen bleibt, sondern Wirklichkeit wird.
Dass er nicht mehr in Gedankenräumen wohnt, sondern in Küchen, auf Gehwegen, in Gesprächen.
Dass ich nicht mehr nur lese, was wahr ist – sondern lebe, was ich schon von der Wahrheit weiß.
Und ja, das klingt einfach. Aber es kostet etwas: das Loslassen des Anspruchs, ständig mehr wissen zu müssen.
Ich ertappe mich oft dabei, wie ich denke: „Ich sollte wieder intensiver lesen. Ich sollte tiefer graben.“
Doch dann kommt dieser leise Gedanke:
„Wie viel von dem, was du schon weißt, lebt gerade in deinem Alltag?“
Es ist leicht, Wissen zu sammeln. Es ist schwerer, Wissen in Leben zu verwandeln.
Doch vielleicht beginnt dort die eigentliche Reife:
nicht, wenn ich mehr erkenne, sondern wenn ich das Erkannte durchhalte – im Kleinen, im Unscheinbaren, im Gewöhnlichen.
Vielleicht ist das das eigentliche Wunder:
Dass Gott in der Werkstatt Jesu nicht anders gegenwärtig war als in der Predigt auf dem Berg.
Dass die Gegenwart Gottes nicht an den Ort gebunden ist, sondern an die Haltung.
Treue ist überall möglich – und überall heilig.
Ich beginne zu verstehen, dass Glaube keine Disziplin ist, die ich halten muss, sondern eine Beziehung, die mich hält.
Eine Beziehung, die auch dann lebendig bleibt, wenn der Kalender voll ist.
Vielleicht gerade dann.
Ich lese weniger, aber ich höre mehr.
Ich schreibe weniger, aber ich sehe tiefer.
Ich tue weniger, aber ich lebe bewusster.
Und in diesen Momenten – zwischen zwei Atemzügen – begegne ich Gott.
Nicht spektakulär. Nicht mystisch. Einfach still.
Wie eine Gegenwart, die nichts fordert, aber alles erfüllt.
Die Frage, die ich dir mitgebe:
Wie viele deiner Erkenntnisse haben schon eine Gestalt in deinem Alltag gefunden?
Wie viele Worte, die du gelesen hast, sind zu Bewegungen geworden – in deiner Stimme, in deiner Geduld, in deiner Art zu lieben?
Und wie oft begegnest du Gott – nicht auf der Suche nach dem Besonderen, sondern mitten im Gewöhnlichen?
„Seid nicht nur Hörer des Wortes – lebt, was ihr lest.“ (nach Jak 1,22)
Nicht als Forderung.
Sondern als Einladung.
Was du erkannt hast, darf Raum greifen.
Nicht aus Pflicht – aus Liebe.
Denn vielleicht ist der heiligste Moment des Tages nicht der, in dem du liest.
Sondern der, in dem du lebst, was du gelesen hast.