Fettgedrucktes für schnell Leser…
Einleitender Impuls:
Jede:r ist gemeint – ganz gleich, wie laut oder leise du bist, wie klar dein Glaube klingt oder wie oft du zweifelst. Gott rechnet anders. Diese Tür bleibt offen – auch, wenn du gar nicht sicher bist, ob du überhaupt klopfen darfst.
Paulus argumentiert hier bewusst gegen jede Form religiöser Abgrenzung. Er schreibt an eine Gemeinde, in der Zugehörigkeit heiß umkämpft war, und zitiert Joel als Brücke zwischen jüdischer und nichtjüdischer Erfahrung. Im Alten Testament (Joel 3,5) steht schon: „Jeder, der den Namen des Herrn anruft, wird gerettet werden.“ Das war damals eine Provokation – und ist es heute immer noch. „Jeder“ meint wirklich jede:n – mitten im Trubel deines Alltags, beim Arbeiten, Kochen, im Bus, nachts wach im Bett. Es geht nicht um das richtige Wort, nicht um perfekte Frömmigkeit. Gott erkennt dein Flüstern im Lärm genauso wie dein Schreien in der Stille. Anrufen kann leise geschehen, gebrochen, sogar ohne Stimme. Gerade wenn du dich ausgeschlossen fühlst, bist du mit dieser Zusage gemeint.
Aber bleibt diese Einladung wirklich für alle? Kann wirklich jede:r gerettet werden – selbst, wenn jemand sich abwendet, verzweifelt, schweigt? Paulus hält diese Spannung aus. Es gibt keine Bedingungen, aber auch keine Garantie, dass immer alles glatt läuft. „Jeder“ heißt: Auch, wenn du dich fragst, ob dein Name zählt, ob dein Rufen überhaupt noch ankommt. Gott wartet auf dich, egal wie oft du gezögert oder gestolpert bist. Keine Stimme ist zu leise, kein Flüstern zu unsicher. Er kennt dich – und jede gebrochene Stimme ist bei ihm willkommen.
Was hindert dich, heute zu rufen – mitten im Lärm, in der Stille, beim Funktionieren oder Scheitern? Vielleicht ist heute der Tag, an dem du Gott einfach deinen Namen nennst. Ich stelle dir diese Frage, weil es Mut kostet, ehrlich zu sein – und weil ich glaube, dass echte Zugehörigkeit erst dort beginnt, wo nichts mehr bewiesen werden muss. Das geistliche Risiko: Kontrolle loslassen. Die Verheißung: zu erleben, dass du wirklich gemeint bist.
Fragen zur Vertiefung oder für Gruppengespräche:
- Wo spürst du in deinem Alltag die Sehnsucht, wirklich gemeint und eingeladen zu sein? (Manchmal merken wir erst in der Unsicherheit, wie sehr wir dazugehören möchten. Diese Frage hilft, eigene „Zugehörigkeitsmomente“ zu entdecken – und vielleicht auch, wo du sie vermisst.)
- Wie würde dein Tag aussehen, wenn du dich traust, Gott auch mit deinen brüchigen, leisen oder widersprüchlichen Gedanken anzusprechen? (Die Frage lädt dazu ein, nicht auf perfekte Gebete zu warten, sondern Alltag und Zweifel vor Gott zu bringen – und darin einen neuen Zugang zum Glauben zu entdecken.)
- Was hindert dich daran, zu glauben, dass Gottes Einladung wirklich für jede:n gilt – auch für dich? (Hier wird das zentrale Thema noch einmal persönlich: Wo zweifelst du, ob „jeder“ auch dich meint – und was könnte sich ändern, wenn du diese Einladung annimmst?)
Parallele Bibeltexte als Slogans mit Anwendung:
Joel 3,5 – „Jede:r zählt.“ → Du darfst dich einreihen, ganz gleich wo du stehst – Gott überhört niemanden.
Psalm 34,18 – „Auch Flüstern erreicht Gott.“ → Auch wenn du dich schwach fühlst – deine Stimme findet Gehör bei Gott.
Matthäus 7,7 – „Frag einfach.“ → Du musst nichts beweisen, sondern darfst Gott einfach suchen – wie du bist.
Offenbarung 3,20 – „Tür bleibt offen.“ → Gott wartet – und es braucht manchmal nur einen leisen Impuls, ihn hereinzulassen.
Nimm dir einfach mal 20 Minuten Zeit, um die ganze Betrachtung in Ruhe zu lesen – vielleicht entdeckst du dabei mehr, als du erwartest.
Ausarbeitung zum Impuls
Bevor wir in den Text eintauchen, lade ich dich ein, kurz innezuhalten, alles andere loszulassen und gemeinsam mit mir Gott die nächsten Minuten anzuvertrauen.
Lieber Vater, danke, dass du uns heute zusammenführst – so unterschiedlich wir sind, mit Fragen, Zweifeln und Hoffnung. Ich danke dir, dass du jeden Menschen im Blick hast und dass bei dir „alle, die deinen Namen anrufen, gerettet werden“. Du weißt, wie oft wir uns abstrampeln, um dir zu gefallen, und dabei vergessen, dass du längst alles getan hast. Danke für deine Nähe, die nicht an Leistung hängt, sondern an deinem Versprechen. Schenk uns offene Augen und ein ehrliches Herz, damit wir heute neu entdecken, was es heißt, aus Gnade und im Vertrauen auf dich zu leben. Danke für deine Geduld mit uns – und dass deine Hand auch dann offenbleibt, wenn wir sie übersehen. Im Namen Jesu,
Amen.
Lass uns jetzt gemeinsam in den Text eintauchen und schauen, wie Paulus diese Spannung zwischen Leistung und Vertrauen auf den Punkt bringt.
Persönliche Identifikation mit dem Text und der Ausarbeitung:
In diesem Ersten Abschnitt geht es nicht darum, den Text zu erklären – sondern ihm zuzuhören. Es ist eigentlich der Letze schritt der Ausarbeitung gewesen, der den Ich nach allen anderen Schritten gegangen bin, die du danach lesen kannst… Ich versuche den Text zu sehen, zu hören zu fühlen und stelle mir die leisen, ehrlichen „W“-Fragen: Was spricht mich an? Was bleibt unausgesprochen? Warum bewegt mich das gerade jetzt? Ich frage mich, wie dieser Vers meinen Alltag berühren kann – nicht theoretisch, sondern greifbar. Und ich spüre nach, was das mit meinem Glauben macht – ob es trägt, fordert, tröstet oder alles zugleich. Am Ende suche ich nicht die perfekte Antwort, sondern eine aufrichtige Reaktion: Was nehme ich mit – ganz persönlich, im Herzen, im Leben, im Blick auf Gott.
Also, bereit?
Ich spreche über die Perikope Römer 9,30–10,21 – einen Text, der mehr will als nur gelesen werden. Hier stehen Fragen im Raum, die mich herausfordern: Wer ist dabei? Was bedeutet Zugehörigkeit? Wie weit reicht Gnade – und bleibt da noch ein Platz für die Treue? Ich versuche, den Text nicht zu sezieren, sondern lebendig werden zu lassen. Sehen heißt: Ich stelle mir diese Szene vor, wie Paulus, zwischen Gebet und Streit, ringt – um die Zukunft seines Volkes, aber auch um die Weite des Evangeliums. Da stehen Menschen, die nach jahrhundertelanger Identität suchen, die Eifer und Tradition aufeinanderprallen lassen, und plötzlich wird alles aufgebrochen: „Denn jeder, der den Namen des Herrn anruft, wird gerettet werden.“ Dieses im Griechischen πᾶς (pas) – „jeder“ – ist wie ein Fenster, das sich in einer engen Kammer öffnet. Ich sehe das Gesetz (νόμος – nomos) als einen alten, ehrwürdigen Weg, der nun an einen Punkt kommt, wo er nicht mehr weiterführt – und ich sehe die Hände, die nach etwas Neuem greifen wollen, aber noch nicht wissen, ob sie sich wirklich trauen dürfen.
Ich höre, was Paulus laut sagt: Dass Glaube und Bekenntnis nicht voneinander zu trennen sind, dass das Herz und der Mund zusammengehören, wenn Rettung (σωτηρία – sōtēria) konkret werden soll. Ich höre aber auch, was nicht gesagt wird: Den Schmerz über Israel, die Ratlosigkeit angesichts von Verstockung, die unausgesprochene Frage, ob Gottes Geduld irgendwann am Ende ist. Die Stimmen der gelesenen Autoren – Dunn, Käsemann, Longenecker, Schreiner, Keener, Peterson, Pate, Origen – schwingen im Hintergrund mit, manchmal als Gegenrede, manchmal als stille Zustimmung. „Das Gesetz wird zur Falle, wo es Besitzstand und nicht Gehorsam ist.“ „Rettung wird denen zuteil, die sich Christus als Herrn ausliefern.“ „Gottes Geschichte mit Israel bleibt offen.“ Ich höre die Bibel im Dialog mit sich selbst – Joel, Jesaja, Paulus, Offenbarung. Immer wieder taucht diese Spannung auf: Gnade für alle – Erwählung bleibt. Gesetz als Geschenk – Gesetz als Grenze. Ich merke, wie wenig der Text die Dinge glattziehen will.
Fühlen – das ist vielleicht das Schwierigste. Was bleibt bei mir hängen? Ich fühle die Weite und zugleich die Schwere des Versprechens, dass jeder gerettet werden kann – und dass das dennoch keine Einladung in Beliebigkeit ist. Das Gesetz bleibt wichtig, nicht als Last, sondern als Bundeszeichen. Ich spüre, dass Glaube für Paulus nie ein stilles Für-wahr-Halten ist, sondern eine Bewegung des ganzen Menschen – mit Herz, Mund, Leben, Risiko. Die Perikope bringt mich an Punkte, an denen ich nicht sicher bin, ob ich schon da bin, wo ich sein sollte. Manchmal spüre ich Trost: Gott schließt niemanden aus, auch nicht, wenn ich mich gerade außen fühle. Manchmal ist es eher eine Zumutung: Was bedeutet es, wirklich „den Namen des Herrn anzurufen“, wenn ich mich leer fühle? Ist Gemeinde wirklich Zeichen und nicht Besitz? Und wie bewahrt man Treue, wenn alles um einen herum flüchtig wird?
Ich nehme mit: Glaube, Gesetz und Rettung gehören zusammen, aber nie so, dass ich mir einen festen Platz sichern kann. Das Angebot Gottes bleibt, aber es bleibt auch offen. Mein Glaube bleibt auf dem Weg, zwischen Erwählung und Einladung, zwischen Gehorsam und Vertrauen, zwischen Festhalten und Loslassen.
Lass uns nun gemeinsam in die Ausarbeitung einsteigen – Schritt für Schritt, um den inneren Reichtum und die geistlichen Spannungen dieses Textes wirklich zu begreifen.
Der Text:
Zunächst werfen wir einen Blick auf den Text in verschiedenen Bibelübersetzungen. Dadurch gewinnen wir ein tieferes Verständnis und können die unterschiedlichen Nuancen des Textes in den jeweiligen Übersetzungen oder Übertragungen besser erfassen. Dazu vergleichen wir die Elberfelder 2006 (ELB 2006), Schlachter 2000 (SLT), Luther 2017 (LU17), Basis Bibel (BB) und die Hoffnung für alle 2015 (Hfa).
Römer 10,13
ELB 2006: denn »jeder, der den Namen des Herrn anrufen wird, wird gerettet werden«.
SLT: denn: »Jeder, der den Namen des Herrn anruft, wird gerettet werden«.
LU17: Denn »wer den Namen des Herrn anruft, wird selig werden«.
BB: Denn es heißt ja auch: »Jeder, der den Namen des Herrn anruft, wird gerettet werden.«
HfA: »Denn jeder, der den Namen des Herrn anruft, wird gerettet werden.«
Der Kontext:
In diesem Abschnitt geht es darum, die grundlegenden Fragen – das „Wer“, „Wo“, „Was“, „Wann“ und „Warum“ – zu klären. Das Ziel ist es, ein besseres Bild von der Welt und den Umständen zu zeichnen, in denen dieser Vers verfasst wurde. So bekommen wir ein tieferes Verständnis für die Botschaft, bevor wir uns den Details widmen.
Kurzgesagt: In Römer 10,13 geht’s um ein uraltes Versprechen, das plötzlich für alle gilt – nicht nur für ein exklusives Grüppchen. Paulus schreibt an Leute, die sich fragen, ob Gott wirklich jeden meint – oder ob es nicht doch ein paar heimliche VIP-Regeln gibt.
Previously on „Römerbrief“: Stell dir vor, Paulus sitzt irgendwo unterwegs, vielleicht in Korinth, und schreibt einer bunten Gemeinde in Rom – da hocken Juden und Nichtjuden zusammen am Tisch, jeder bringt sein eigenes Päckchen an Tradition, Unsicherheiten und Familienrezepten mit. In den Kapiteln vorher war die große Frage: Hat Israel jetzt ausgespielt, nur weil viele das Evangelium nicht akzeptiert haben? Oder ist Gott irgendwie doch noch treu? Paulus erzählt, wie Gott seinen Plan immer durchgezogen hat, mal quer durch alle Erwartungen, und dass jetzt etwas Neues angebrochen ist – aber ohne die alte Geschichte einfach abzuschaffen.
Jetzt tauchen wir ein in eine ziemlich aufgeladene Welt. Juden und Nichtjuden leben Tür an Tür, aber jeder fragt sich, wie man mit Gott ins Reine kommt. Die einen pochen auf ihre Tradition: Gesetz, Abstammung, jahrtausendealte Bräuche. Die anderen kennen diesen ganzen Hintergrund kaum, erleben aber, dass der Glaube an Jesus ihnen eine ganz neue Heimat gibt. Für Paulus ist das wie ein Familientreffen, bei dem keiner weiß, ob er am Tisch sitzen darf – oder ob der Stuhl nicht doch wackelt.
Das Schreiben hat einen ganz konkreten Anlass: Paulus will die Gemeinde in Rom ermutigen, zusammenzuhalten – trotz aller Unterschiede. Die Spannungen sind nicht nur theologisch, sondern auch ganz praktisch: Da gab es Verunsicherungen, alte Vorurteile, das Gefühl, nie ganz dazuzugehören. Paulus zeigt auf, dass Gottes Einladung jetzt wirklich an jeden geht, egal, was er bisher geglaubt oder gelebt hat. Für viele ein echter Perspektivwechsel, für andere fast schon eine Zumutung – aber immer mit diesem Grundton: Gott ist großzügiger, als wir dachten.
In dieser Atmosphäre lesen wir Römer 10,13 – mitten in einem echten „Patchwork-Glauben“, der noch längst nicht fertig gestrickt ist. Es ist der Moment, in dem Paulus klarstellt: Das mit dem „anrufen“ und „gerettet werden“ ist keine geheime Chiffre für Insider. Hier wird keine fromme Elite gegründet, sondern eine offene Tür angekündigt – mit allem, was dazugehört: Fragen, Umarmen, Stolpern, Staunen.
Im nächsten Schritt schauen wir uns an, welche Schlüsselwörter im Text eigentlich die Tür öffnen – und warum sie damals wie heute für Diskussionen sorgen.
Die Schlüsselwörter:
In diesem Abschnitt wollen wir uns genauer mit den Schlüsselwörtern aus dem Text befassen. Diese Worte tragen tiefere Bedeutungen, die oft in der Übersetzung verloren gehen oder nicht auf den ersten Blick ersichtlich sind. Wir werden die wichtigsten Begriffe aus dem ursprünglichen Text herausnehmen und ihre Bedeutung näher betrachten. Dabei schauen wir nicht nur auf die wörtliche Übersetzung, sondern auch darauf, was sie für das Leben und den Glauben bedeuten. Das hilft uns, die Tiefe und Kraft dieses Verses besser zu verstehen und ihn auf eine neue Weise zu erleben.
Römer 10,13 – Ursprünglicher Text (Nestle-Aland 28):
Πᾶς γὰρ ὃς ἂν ἐπικαλέσηται τὸ ὄνομα κυρίου σωθήσεται.
Übersetzung Römer 10,13 (Elberfelder 2006):
»denn jeder, der den Namen des Herrn anrufen wird, wird gerettet werden«
Semantisch-pragmatische Kommentierung der Schlüsselwörter
- πᾶς (pas) – „jeder, alle“: Umfasst nicht nur Einzelne, sondern grundsätzlich „alle, wer auch immer“. Im Kontext betont das Wort eine uneingeschränkte Offenheit – niemand ist aus Prinzip ausgeschlossen. In der griechischen Syntax steht das Wort hier ganz vorn, was die Betonung noch unterstreicht.
- γάρ (gar) – „denn“: Eine kausale Konjunktion, die einen Grund oder eine Erklärung einleitet. Hier verbindet sie die universale Zusage direkt mit dem Vorhergesagten – es geht um Gottes Prinzip, nicht bloß eine fromme Option.
- ὅς ἄν (hos an) – „wer auch immer“: Relativpronomen mit einer Konditionalpartikel. Die Kombination hat einen „offenen“ Charakter: egal, wer, ohne weitere Qualifikation. Es gibt keine vorgelagerten Bedingungen außer dem folgenden Handeln.
- ἐπικαλέσηται (epikalesētai) – „anrufen, um Hilfe bitten“: Aorist, Medium, Konjunktiv – beschreibt eine einmalige, bewusste Handlung mit persönlicher Beteiligung. Das Verb „anrufen“ meint in der antiken Welt: Jemanden ausdrücklich und öffentlich als Herr und Retter bekennen, sich seiner Hilfe bewusst ausliefern, mit der Hoffnung auf Antwort. Es ist mehr als ein flüchtiges Gebet – hier schwingt immer Anerkennung, Vertrauen und Beziehung mit.
- τὸ ὄνομα (to onoma) – „der Name“: Im semitischen Denken steht „Name“ nicht für eine bloße Bezeichnung, sondern für die Person, ihren Charakter, ihren Ruf und ihre Autorität. Den „Namen des Herrn“ anrufen heißt: sich direkt an die Person Gottes wenden, auf seine Identität und Zusagen bauen.
- κυρίου (kyriou) – „des Herrn“: Titel mit Doppeldeutung – im jüdischen Kontext ist das die gängige Umschreibung für den Gottesnamen (JHWH), im urchristlichen Kontext verschmilzt das mit dem Bekenntnis zu Jesus als Kyrios. Wer den Namen des Herrn anruft, bezieht sich also sowohl auf Gottes universale Macht als auch auf die christologische Bedeutung in Jesus.
- σωθήσεται (sōthēsetai) – „wird gerettet werden“: Futur, Passiv, Indikativ – das Ergebnis ist nicht im eigenen Zugriff, sondern Zusage eines anderen (Gottes). Die Rettung steht im Zusammenhang mit dem Endgericht, aber auch mit Heil, Befreiung, Wiederherstellung im Hier und Jetzt. Das Passiv („wird gerettet werden“) zeigt, dass der Mensch nicht sich selbst rettet, sondern gerettet wird – ganz im Sinn paulinischer Gnadenlogik.
Im nächsten Abschnitt folgt die theologische Auswertung: Warum diese scheinbar simplen Begriffe alles andere als banal sind – und was sie für unser Verständnis von Rettung, Gott und Mensch bedeuten.
Ein Kommentar zum Text:
Römer 9,30–10,21 ist ein Text, der sich jedem schnellen Urteil entzieht. Hier treffen jahrhundertelange Verheißungen, menschlicher Eifer, göttliche Geduld, aber auch Enttäuschung und unerwartete Öffnung aufeinander. Die Verse fordern dazu heraus, nicht nur eine theologische These nachzubeten, sondern die Grundbegriffe von Glaube, Gesetz, Rettung und Zugehörigkeit neu am Urtext und der gesamten Bibel zu durchdenken.
„Denn jeder, der den Namen des Herrn anruft, wird gerettet werden.“ Dieser Satz ist keine beiläufige Randbemerkung, sondern die Brennlinse der ganzen Perikope. Das griechische πᾶς (pas) meint „jeder, alle, ausnahmslos“ – es ist die Sprengung religiöser Grenzziehungen, die im Alten Bund aus der Erwählung Israels erwuchsen. Aber mit dieser Öffnung ist nichts relativiert: Das Heil bleibt in einer konkreten Form gebunden – an das Anrufen des Namens des Herrn. Was das heißt, kann man nicht aus der Luft greifen.
ἐπικαλέω (epikaleō) – „anrufen“ – steht im biblischen Kontext für einen öffentlichen, bewussten Vertrauensakt, häufig in Notsituationen (vgl. Psalm 50,15: „Rufe mich an am Tag der Not“). Paulus verwendet das Wort hier als Summe von Glauben und Bekenntnis. Schreiner betont, dass damit „kein magisches Ritual, sondern die bewusste, persönliche Hinwendung zu Christus als Herrn“ gemeint ist (Schreiner, Romans). Keener ergänzt: „Wer im römischen Kontext Jesus als Kyrios anruft, setzt sich gesellschaftlichem Risiko aus“ (Keener, Romans: A New Covenant Commentary). Hier zeigt sich: Glauben (πίστις – pistis) ist nicht stiller Innerlichkeitsglaube, sondern lebt von der Verknüpfung von Herz und Mund.* „Mit dem Herzen glaubt man zur Gerechtigkeit, mit dem Mund bekennt man zur Rettung“ (Römer 10,10). Das griechische δικαιοσύνη (dikaiosynē) für „Gerechtigkeit“ meint nicht bloß juristische Rechtheit, sondern die statusstiftende Anerkennung Gottes, die den Menschen als Teil seines Bundesvolkes bestätigt.
Das bringt uns an das erste große Spannungsfeld: Glaube und Gesetz. Israel ist in diesem Text tragische Hauptfigur: „Israel, das dem Gesetz der Gerechtigkeit nachjagte, ist nicht ans Ziel gelangt“ (Römer 9,31). Aber warum? Weil das Gesetz (νόμος – nomos) nicht als Zeichen des Bundes, sondern als System der Selbstsicherung gebraucht wurde.* Dunn erklärt: „Der Fehler Israels war nicht das Streben nach Gehorsam, sondern das Missverstehen des Gesetzes als System exklusiver Merkmale“ (Dunn, Romans 9–16). Käsemann schärft nach: „Das Gesetz wird zur Falle, wo es Besitzstand und nicht Gehorsam ist“ (Käsemann, Commentary on Romans). Paulus’ Argument bleibt biblisch: Das Gesetz ist weder abgeschafft noch wertlos – aber es kann nicht zur Gerechtigkeit führen, wenn es von der Vertrauensbeziehung zu Gott abgekoppelt wird.
Hier wird für mein theologisches Verständnis ein adventistischer Nerv getroffen. Das Gesetz (νόμος – nomos) bleibt. Es ist nicht der Weg zum Heil, sondern seine Frucht und Ausdruck* (vgl. Matthäus 5,17–19: „Ich bin nicht gekommen, um das Gesetz aufzulösen, sondern zu erfüllen“). In der adventistischen Linie ist das Halten der Gebote kein Versuch, sich Gnade zu verdienen, sondern Ausdruck der Bundesantwort – sichtbar zB. am Sabbat als Zeichen der Ruhe Gottes und der Schöpfung (Exodus 20,8–11; Hebräer 4,9). Die Kirche versteht sich als „die, die Gottes Gebote halten und den Glauben an Jesus haben“ (Offenbarung 14,12). Longenecker weist darauf hin, dass „πᾶς einen maximal inklusiven Begriff einbringt, der bewusst keine Ausnahme zulässt“ (Longenecker, The Epistle to the Romans). Diese Inklusion widerspricht aber nicht der Verbindlichkeit der Gebote – sie begründet sie.
Ein zweites Spannungsfeld ist Universalität und Erwählung. Paulus zitiert Joel 3,5, um zu belegen: Gott hat immer schon Rettung allen Menschen angeboten – aber die Geschichte mit Israel ist nicht abgelöst. Dunn: „Gottes Geschichte mit Israel bleibt offen“ (Dunn, Romans 9–16). Schreiner ergänzt: „Die Einladung an die Völker ist keine Verwerfung Israels, sondern Ausdruck der Erfüllung der Schrift“ (Schreiner, Romans). Diese Offenheit wird konkret in den Zitaten aus Jesaja (Römer 10,16–21), die sowohl Israels Unverständnis als auch Gottes Geduld markieren. Hier ist kein Platz für einen supersessionistischen Gedanken – Israel bleibt Teil von Gottes Heilsplan (Römer 11).
Doch wie funktioniert „Glaube“ bei Paulus wirklich? πίστις (pistis) im Urtext meint immer mehr als ein Für-wahr-Halten: Es ist das feste Verlassen auf Gottes Zusage, ein „Treuesein“ zur Verheißung, wie sie in Jesus konkret geworden ist. Peterson betont: „Glaube ist nicht nur innerlich, sondern verlangt das öffentliche Bekenntnis zu Jesus als Herrn“ (Peterson, Romans). Origen sagt: „Die wahre Gerechtigkeit kommt nicht von außen, sondern aus dem Glauben, der das Herz verwandelt“ (Origen, Commentary on the Epistle to the Romans). Diese Wandlung ist keine Gefühlslage, sondern wird im Leben sichtbar. Im biblischen Kontext heißt das: Wer glaubt, handelt – und wer handelt, bekennt.
Hier ist ein adventistischer Akzent: Die letzte Gemeinde ist in der Offenbarung nicht die perfekte, sondern die treue (Offenbarung 12,17; 14,12). Treue bedeutet: am Evangelium festhalten, den Sabbat bewahren, die Gebote achten – nicht aus Angst, sondern aus Antwort auf erfahrene Gnade. Das ist für mich kein äußerliches Gesetzeshalten, sondern eine Lebenshaltung, die vom Bund her versteht, dass Gnade und Gehorsam sich gegenseitig bedingen und bezeugen.
Die Funktion von Rettung (σωτηρία – sōtēria) bei Paulus ist auch kein statischer Zustand. Schreiner schreibt: „Es gibt keinen Unterschied mehr zwischen Juden und Heiden – das Heil steht allen offen“ (Schreiner, Romans). Die Rettung ist Gabe und Auftrag, Geschenk und Aufgabe zugleich. Pate sagt: „Das Anrufen des Namens ist das äußere Zeichen einer radikal neuen Gottesbeziehung“ (Pate, Romans). Keener hebt hervor, wie das Anrufen im heidnischen Kontext ein Akt der Gegenkultur und Identitätsbildung war (Keener, Romans: A New Covenant Commentary). Wer heute ruft, stellt sich ebenso bewusst unter eine andere Herrschaft, widersetzt sich dem Zeitgeist, bleibt aber in der Spur des biblischen Glaubens – immer tastend, nie fertig.
Die Haltungen der Autoren die ich mir durchgelesen habe werden hier nicht bloß aneinandergereiht — geht auch nicht. Dunn und Käsemann liefern unterschiedliche, sich ergänzende und manchmal auch widersprechende Linien. Während Dunn mehr die Bundestheologie herausarbeitet, legt Käsemann Wert auf die existenzielle Entscheidung. Pate bringt die Gemeinde als inklusives Projekt ins Spiel. Longenecker zeigt, wie die alttestamentlichen Zitate den Midrasch-Rahmen für Paulus’ Theologie schaffen. Schreiner bleibt nah an der grammatischen Textarbeit, Origen öffnet die spirituelle Tiefe.
In der Schrift-Schrift-Auslegung ergibt sich ein weites Netz: Joel 3,5 und Römer 10,13 bilden die Längsachse – die Prophetie wird im Evangelium nicht überholt, sondern verwirklicht. Jesaja bringt die Klage über Israels Unverständnis (Jesaja 65,1–2; Römer 10,20–21), während Offenbarung die Gemeinde als „Gebotsvolk“ markiert (Offenbarung 14,12). Die Brücke zu Matthäus 5,17–19 ist für mich entscheidend, weil sie zeigt: Wer Jesus folgt, wird Gesetz und Evangelium als untrennbare Einheit denken.
Die Spannungsfelder bleiben offen. Wer die Universalität betont, verliert nicht die Erwählung aus dem Blick; wer das Gesetz hält, weiß, dass es immer Frucht der Gnade bleibt. Paulus entzieht sich jeder schnellen Harmonisierung. Was bedeutet das praktisch? Für die Kirche heute heißt es: Die Einladung bleibt offen, aber die Form ist klar – Glauben, Bekenntnis, Gebotstreue gehören zusammen. Für mich ist das ein geistlicher Prozess, der nie abgeschlossen ist.
Es gibt Fragen, die sich nicht erledigen lassen: Was heißt es, „den Namen des Herrn anzurufen“, wenn die eigenen Worte leer bleiben? Wie bewahrt man den Bund, wenn das Gesetz nicht mehr populär ist? Was trägt durch, wenn Erwählung zum Stolperstein wird? Die Perikope gibt keine einfachen Antworten, aber sie öffnet einen Raum, in dem die Gnade Gottes neu als Ruf, Trost und Aufgabe hörbar wird.
Was heißt es, heute im eigenen Leben Glaube, Gesetz und Rettung so zusammenzuhalten, dass das Evangelium weder verflacht noch verriegelt wird?
Zentrale Punkte der Ausarbeitung
- Zugehörigkeit ist keine geschlossene Gesellschaft.
- Römer 10,13 öffnet die Tür für jede:n – unabhängig von Herkunft, Status oder Vorleistung. Gott setzt keine Hürde, sondern lädt ein, dass jeder den Namen des Herrn anrufen kann.
- Die Frage nach Zugehörigkeit wird radikal anders beantwortet, als wir es gewohnt sind: Nicht Abstammung, Wissen oder Frömmigkeit entscheiden, sondern der Mut, Gott mit dem eigenen Namen anzusprechen.
- Das Anrufen ist mehr als ein Gebet.
- Im Text steckt eine Spannung: Anrufen bedeutet nicht nur Bitten, sondern Bekenntnis, Teilhabe, sogar Identität. Es ist ein öffentlicher, persönlicher Schritt – egal wie laut oder leise er ausfällt.
- Der Text zeigt: Auch gebrochene, leise oder zweifelnde Stimmen finden Gehör. Gott hört Flüstern wie Schreien – und meint damit wirklich jede:n.
- Gottes Rettung ist Geschenk und Aufgabe zugleich.
- Der Vers verspricht Rettung, aber nicht als Besitz, sondern als Weg. Rettung bleibt ein Prozess aus Vertrauen, Antwort und Beziehung.
- Die Zusage „wird gerettet werden“ heißt: Es braucht beides – die offene Hand Gottes und den Mut, sich selbst hineinzuwerfen, auch mit Fragen, mit Unsicherheit, mit leeren Händen.
- Gesetz, Glaube und Gnade gehören zusammen.
- Paulus argumentiert gegen religiöse Ausgrenzung, ohne das Gesetz zu entwerten. Das Gesetz bleibt Wegweiser, aber nicht Bedingung – es ist Ausdruck der Einladung Gottes, nicht Hürde.
- Glaube ist nie bloß Gefühl oder Theorie – sondern eine Bewegung, die Herz und Mund, Alltag und Bekenntnis umfasst.
- Die Einladung gilt auch, wenn du dich ausgeschlossen fühlst.
- Paulus schreibt das in eine Zeit, in der Zugehörigkeit umstritten war. Der Text ist ein Protest gegen jede Form spirituellen Gatekeepings.
- Auch Zweifel, Unsicherheit und das Gefühl, „zu spät“ zu sein, schließen dich nicht aus – die Tür bleibt offen.
Warum ist das wichtig für mich?
- Weil es mein Bild von Gott und Gemeinde verändert: Kein exklusiver Club, sondern ein offenes Zuhause für Suchende und Fragende.
- Weil es meine Unsicherheiten ernst nimmt: Gott erwartet keine Perfektion, sondern ein echtes Anrufen – selbst im Chaos, im Zweifel, im Alltag.
- Weil ich erkennen kann: Glaube lebt von Begegnung, nicht von Leistung. Ich darf den Mut finden, mit dem zu Gott zu kommen, was ich wirklich habe.
Der Mehrwert dieser Erkenntnis
- Ich kann aufhören, mich ausgeschlossen zu fühlen, weil ich verstehe: Die Einladung Gottes ist persönlich, konkret und nicht an Bedingungen geknüpft.
- Ich lerne, dass Glaube und Rettung kein einmaliges Ereignis, sondern ein lebendiger Prozess sind, der mein ganzes Leben umfasst.
- Ich werde ermutigt, Gott ehrlich zu begegnen – mit allem, was mir gelingt, aber auch mit allem, was mir fehlt.
Kurz gesagt: Römer 10,13 will mich nicht in die „richtige“ Form pressen, sondern gibt mir Raum, als Mensch vor Gott zu stehen – gehört, gemeint und willkommen.
