Matthäus 18,3-5 Weniger ist mehr → „Wenn ihr euch nicht ändert und so werdet wie die Kinder, kommt ihr ganz sicher nicht in Gottes himmlisches Reich. Wer aber so klein und demütig sein kann wie ein Kind, der ist der Größte in Gottes himmlischem Reich. Und wer solch einen Menschen mir zuliebe aufnimmt, der nimmt mich auf.“

Fettgedrucktes für schnell Leser…

Einleitender Impuls:

Manchmal stelle ich mir vor, wie Jesus mitten unter den Jüngern steht, ein Kind an der Hand, und es ist plötzlich ganz still. Keine Predigt, kein großes Schauspiel, sondern diese eine Szene: Die Frage nach dem Größten steht im Raum, und keiner will sie so recht beantworten. Da ist das Kind – ohne Worte, ohne Leistung, einfach nur da. Ich merke, wie schnell ich das Bild in mir beschönige. Aber eigentlich kratzt es an etwas Tieferem. Es geht nicht darum, kindlich-naiv durchs Leben zu laufen oder erwachsen sein abzulegen. Es geht um diese eigenartige Freiheit, nichts beweisen zu müssen. Was wäre, wenn Nachfolge genau da beginnt, wo ich nicht mehr groß rauskommen will, sondern ehrlich zugeben kann: Ich weiß gerade nicht weiter. Oder: Ich hab Angst, klein zu sein. Papa — Hilfe.

Vielleicht kennst du dieses Gefühl auch – das Bedürfnis, gesehen zu werden, ich meine nicht im Zentrum zu stehen sondern einfach — nicht übersehen zu werden. Und vielleicht merkst du: Je mehr du dich bemühst, irgendwie Anerkennung, Wert, Bedeutung zu haben, desto schwerer wird das Herz. Was, wenn Jesus genau das meint? Die Ordnung umdreht? Die Leistungsliste zerreißt und sagt: Nicht mit Größe, beginnt das Reich Gottes. Es macht mich unsicher, aber auch neugierig. Wie wäre es, heute einmal nicht zu fragen, wie du besser dastehst?

Ich will dich gar nicht lange zuhalten. Aber vielleicht ist genau das heute dran: Nicht größer werden, sondern kleiner. Nicht lauter, sondern leiser. Nicht mehr machen, sondern ehrlicher sein mit dem, was da ist. Ich weiß nicht, wie es dir geht – ob du das für gefährlich hältst, zu verletzlich, zu wenig „spirituell“. Für mich bleibt diese Einladung unbequem und trotzdem befreiend: Was, wenn du heute nichts liefern musst, um bei Gott anzukommen?

Fragen zur Vertiefung oder für Gruppengespräche:

  1. Wo hast du in letzter Zeit gespürt, dass du „groß rauskommen“ wolltest – und was hat das mit dir gemacht? (Diese Frage will nicht bloß Scham hervorrufen, sondern dazu einladen, ehrlich auf die eigenen Antreiber zu schauen und die Beweggründe hinter dem Drang nach Anerkennung zu entdecken.)
  2. Was fällt dir schwerer: dich klein zu zeigen oder dich ehrlich schwach zuzugeben? Wo, in deinem Alltag, würdest du dir wünschen, mehr Kind sein zu dürfen? (Hier geht es um den konkreten Alltag – um die Frage, wo Masken abgelegt werden könnten, wo echte Begegnung statt Leistung im Raum stehen darf.)
  3. Wie stellst du dir vor, dass Nachfolge im Sinne Jesu aussieht, wenn sie nicht mit Erfolg, sondern mit Ehrlichkeit beginnt? Was könnte sich dadurch in deinem Leben verändern? (Diese Frage will zum Nachdenken einladen, wie echte Nachfolge im eigenen Leben aussehen könnte – ohne fromme Vorgaben, sondern offen für einen persönlichen, ehrlichen Weg.)

Parallele Bibeltexte als Slogans mit Anwendung:

Markus 10,15 – „Wer das Reich nicht wie ein Kind empfängt.“ → Gottes Reich ist kein Lohn für die Tüchtigen, sondern ein Geschenk für die Empfangsbereiten. Nimm an, was du nicht machen kannst.

1. Korinther 1,27-29 – „Gott erwählt das Schwache.“ → Du musst nicht stark sein, um dabei zu sein – manchmal beginnt echte Stärke erst dort, wo du Schwäche zulässt.

Psalm 131,2 – „Meine Seele ist still wie ein gestilltes Kind.“ → Zur Ruhe kommen bedeutet nicht, alles im Griff zu haben – sondern loszulassen, wie ein Kind im Vertrauen.

Johannes 1,12 – „Allen, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden.“ → Identität entsteht nicht durch Leistung, sondern durch Annahme – von Gott und von dir selbst.

Wenn du magst, gönn dir heute zwanzig Minuten, um die ganze Ausarbeitung auf dich wirken zu lassen – vielleicht findest du darin einen Gedanken, der dich einen Schritt weiterbringt.


Ausarbeitung zum Impuls

Wenn du magst, lass uns jetzt für einen Moment zur Ruhe kommen. Atme durch. Leg ab, was dich gerade ablenkt. Und dann öffne dein Herz – für das, was Gott heute sagen will.

Liebevoller Jesu, du hast einmal ein Kind in die Mitte gestellt – als Zeichen. Als Einladung, kleiner zu denken, weicher zu glauben, näher zu dir zum Vater zu kommen. Und manchmal merke ich, wie schwer mir genau das fällt. Mein Kopf will groß sein. Mein Herz will stark sein. Aber du sagst: Werdet wie die Kinder.

Papa, hilf mir, das nicht zu übergehen. Hilf mir, nicht zu erklären, was du zum Staunen gemeint hast. Ich will dir heute nicht beweisen, dass ich reif bin. Ich will lernen, wieder zu vertrauen. Danke, dass du mich ernst nimmst – gerade dann, wenn ich mich klein fühle.

Im Namen Jesu,

Amen.

Dann lass uns gemeinsam tiefer einsteigen – wir schauen uns die Verse jetzt Schritt für Schritt an.

Persönliche Identifikation mit dem Text und der Ausarbeitung:

In diesem Ersten Abschnitt geht es nicht darum, den Text zu erklären – sondern ihm zuzuhören. Es ist eigentlich der Letze schritt der Ausarbeitung gewesen, der den Ich nach allen anderen Schritten gegangen bin, die du danach lesen kannst… Ich stelle mir die leisen, ehrlichen „W“-Fragen: Was spricht mich an? Was bleibt unausgesprochen? Warum bewegt mich das gerade jetzt? Ich frage mich, wie dieser Vers meinen Alltag berühren kann – nicht theoretisch, sondern greifbar. Und ich spüre nach, was das mit meinem Glauben macht – ob es trägt, fordert, tröstet oder alles zugleich. Am Ende suche ich nicht die perfekte Antwort, sondern eine aufrichtige Reaktion: Was nehme ich mit – ganz persönlich, im Herzen, im Leben, im Blick auf Gott.

Also, bereit?

Was sehe ich, wenn ich Matthäus lese und mir diese Szene vor Augen führe? Da stehen die Jünger, vermutlich immer noch mit staubigen Füßen vom letzten Weg, vielleicht ein Kreis, vielleicht eine lose Ansammlung – keiner will zugeben, dass er eigentlich nach vorne drängt. In der Mitte ein Kind, das nicht gefragt wurde, ob es Mittelpunkt einer theologischen Lehrstunde sein will. Jesu Blick: abwartend, vielleicht sogar ein wenig scharf. Ich stelle mir vor, wie es im Raum leiser wird. Die Frage der Jünger – Wer ist der Größte? – hängt noch nach, wie ein schaler Nachgeschmack, der im Hals kratzt. Keiner will der Kleine sein, alle wollen irgendwie groß rauskommen. Man könnte jetzt meinen, es geht um den alten Konkurrenzkampf. Aber was sehe ich noch? Ein Kind, das sich weder erklärt noch verteidigt, das einfach da ist. In seiner Verletzlichkeit, seiner Unfertigkeit. Keine Leistung, kein Ansehen, kein Netzwerk. Was passiert da wirklich? Jesus unterbricht das Machtspiel der Erwachsenen mit der stillen Präsenz eines Kindes. Kein Zeichenwunder, keine feurige Predigt, sondern eine Szene, die von der Unsichtbarkeit lebt.

Schließe ich die Augen und höre in diese Szene hinein, dann klingt erst einmal Verlegenheit. Da ist das typische „Ich frage für einen Freund“-Schweigen nach der Frage nach dem Größten. Vielleicht höre ich das leise, nervöse Atmen eines der Jünger, die Angst, jetzt vorgeführt zu werden. Jesus spricht nicht laut, er sagt nicht: „Schämt euch!“ – sondern bringt einen neuen Ton in die Runde. Das Wort στραφῆτε (straphēte) – umkehren – klingt in meinen Ohren wie eine Ohrfeige und Einladung zugleich. Nicht: „Macht weiter, wie ihr seid“, sondern: „Ihr müsst euch drehen, abwenden von eurem Denken, eurer Art zu sein.“ Was ich zwischen den Zeilen höre, ist Unsicherheit: Kann ich wirklich klein werden, wenn mein ganzes Leben darauf ausgerichtet war, etwas zu werden? Ich höre aber auch ein stilles Angebot. Jesus stellt das Kind nicht vor die Jünger, um sie kleinzumachen, sondern um einen anderen Maßstab zu setzen. Im Hintergrund rauscht vielleicht der Alltag Jerusalems, irgendwo schreit ein Markthändler, und doch ist die Szene wie unter einer Glocke – plötzlich zählt nur noch das, was Jesus sagt.

Was fühle ich, wenn ich mich wirklich darauf einlasse? Es kratzt, weil ich mich an meine eigenen Sicherheiten klammere. Da steht ein Kind – und in mir alles, was erwachsen und vernünftig geworden ist, will nicht zurück auf diesen Platz. Peinlichkeit, vielleicht sogar ein bisschen Scham, weil ich merke: Ich bin näher bei den Jüngern als bei dem Kind. Das Bedürfnis, Bedeutung zu haben, nicht übersehen zu werden – das ist ja kein Kinderspiel. Und doch spüre ich: Die Einladung, klein zu werden, ist kein Abstieg in Bedeutungslosigkeit, sondern ein Aufbrechen von alten Mauern. Ich fühle eine Mischung aus Widerstand und Sehnsucht. Sehnsucht nach der Freiheit, nichts beweisen zu müssen. Widerstand dagegen, Kontrolle loszulassen. Ich würde gern sagen, dass mich der Text befreit – tatsächlich löst er erst einmal Unsicherheit aus. Was, wenn ich mich wirklich auf das Spiel einlasse, das Jesus vorschlägt?

Was will der Text mir sagen – eindeutig und zwischen den Zeilen? Nicht: Werdet kindisch. Nicht: Spielt Demut, damit ihr belohnt werdet. Die Hauptbotschaft ist die Umwertung aller Werte: Gott dreht die Reihenfolge um, stellt das Kind in die Mitte, damit wir endlich aufhören, das eigene Ego aufzublasen. Aber da steckt noch mehr: Zwischen den Zeilen steht, dass die Jünger (und damit auch ich) lernen müssen, dass Nachfolge kein Leistungswettbewerb ist. Kein Wettlauf, kein Selfie-Moment am Thron Gottes. Es bleibt die stille Nuance, dass ich nicht durch Leistung ins Reich komme, sondern durch ein Eingeständnis von Bedürftigkeit. Ich lese auch: Die Gnade, die Gott anbietet, ist nicht für die Gewinner, sondern für die, die nichts mehr vorweisen können. Und nein, der Text sagt eben nicht: „Kinder sind immer besser als Erwachsene.“ Er sagt nicht, du musst dich kleiner machen, damit Gott dich groß macht. Das ist ein Irrtum, der zu oft in frommen Kreisen wiederholt wird. Jesus ruft nicht zur Selbsterniedrigung auf, sondern zur Ehrlichkeit. Zur Beziehung. Nachfolge. Wenn ihr mich liebt, dann haltet meine Gebote, so wie auch ich die Gebote meines Vaters halte (vgl. Johannes 15,10) — seit Kinder Gottes!

Warum ist das wichtig für mich? Weil ich merke, dass der Text meine ganze Existenz infrage stellt. Nicht mein Wissen, nicht meine Glaubensleistung, sondern meine Bereitschaft, leer zu werden. Die Integration in meinen Alltag? Schwer, ehrlich gesagt. Es bedeutet, meine Masken im Alltag zu riskieren, meine Hilfsbedürftigkeit nicht zu verstecken, sondern zuzulassen. Kein geistlicher Show Act, sondern die Übung, in entscheidenden Momenten schwach zu sein.

Welche Schlussfolgerung bleibt? Am Ende des Tages führt mich das alles zurück zum Anfang: Wer bin ich, wenn ich nichts mehr beweisen kann? Und reicht mir das? Vielleicht bleibt der Zweifel. Vielleicht bleibt auch das offene Fragen. Aber genau da, in diesem nicht Aufgelösten, spüre ich, dass das Reich Gottes näher ist als alles, was ich mir je erarbeiten könnte.

Wenn du magst, dann geh jetzt mit mir durch die ganze Ausarbeitung. Ich verspreche keine Patentlösungen, aber vielleicht findest du an ein paar Stellen einen Anstoß zum echten Fragen – und am Ende ein bisschen mehr Freiheit, ehrlich zu bleiben.

Der Text:

Zunächst werfen wir einen Blick auf den Text in verschiedenen Bibelübersetzungen. Dadurch gewinnen wir ein tieferes Verständnis und können die unterschiedlichen Nuancen des Textes in den jeweiligen Übersetzungen oder Übertragungen besser erfassen. Dazu vergleichen wir die Elberfelder 2006 (ELB 2006), Schlachter 2000 (SLT), Luther 2017 (LU17), Basis Bibel (BB) und die Hoffnung für alle 2015 (Hfa).

Matthäus 18,3–5

ELB 2006: und sprach: Wahrlich, ich sage euch, wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr keinesfalls in das Reich der Himmel hineinkommen. Darum, wenn jemand sich selbst erniedrigen wird wie dieses Kind, der ist der Größte im Reich der Himmel; und wenn jemand ein solches Kind aufnehmen wird in meinem Namen, nimmt er mich auf.

SLT: und sprach: Wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht in das Reich der Himmel kommen! Wer nun sich selbst erniedrigt wie dieses Kind, der ist der Größte im Reich der Himmel. Und wer ein solches Kind in meinem Namen aufnimmt, der nimmt mich auf.

LU17: und sprach: Wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen. Wer nun sich selbst erniedrigt und wird wie dieses Kind, der ist der Größte im Himmelreich. Und wer ein solches Kind aufnimmt in meinem Namen, der nimmt mich auf.

BB: Dann sagte er: »Amen, das sage ich euch: Ihr müsst euch ändern und wie die Kinder werden. Nur so könnt ihr ins Himmelreich kommen. Wer sich so klein und unbedeutend macht wie dieses Kind, der ist der Größte im Himmelreich. Und wer so ein Kind aufnimmt, und sich dabei auf mich beruft, der nimmt mich auf.«

HfA: und sagte: »Ich versichere euch: Wenn ihr euch nicht ändert und so werdet wie die Kinder, kommt ihr ganz sicher nicht in Gottes himmlisches Reich. Wer aber so klein und demütig sein kann wie ein Kind, der ist der Größte in Gottes himmlischem Reich. Und wer solch einen Menschen mir zuliebe aufnimmt, der nimmt mich auf.«

Der Kontext:

In diesem Abschnitt geht es darum, die grundlegenden Fragen – das „Wer“, „Wo“, „Was“, „Wann“ und „Warum“ – zu klären. Das Ziel ist es, ein besseres Bild von der Welt und den Umständen zu zeichnen, in denen dieser Vers verfasst wurde. So bekommen wir ein tieferes Verständnis für die Botschaft, bevor wir uns den Details widmen.

Kurzgesagt: Wir sind in einer Zeit, in der sich alles neu sortiert – jüdische Wurzeln, römische Besatzung, religiöse Konflikte, und mittendrin eine junge Bewegung, die behauptet, in Jesus sei alles erfüllt, was Gott versprochen hat. Matthäus schreibt sein Evangelium für Menschen, die sich fragen, wie man inmitten dieser Unruhe überhaupt noch an etwas glauben kann – oder besser: an jemanden.

Previously on…: Stell dir vor, du wachst in einer Welt auf, in der keiner mehr so recht weiß, wo er hingehört. Jerusalem ist gefallen, der Tempel – das Zentrum des Glaubens – liegt in Trümmern. Das Römische Reich hält alles im Griff, aber wirklich wohl fühlt sich da keiner. Die ersten Christen? Die hocken irgendwo in Syrien oder vielleicht in Antiochia, weit weg von der alten Heimat, und müssen ihren Glauben neu sortieren. Sie fragen sich: Bleiben wir Juden, sind wir jetzt Christen, was bedeutet das überhaupt? Die Gemeinden sind ein buntes Mischmasch aus Menschen, die mit dem Gesetz aufgewachsen sind, und solchen, für die die Tora nur ein Wort ist. Es knirscht an allen Ecken. Konflikte mit den jüdischen Autoritäten gehören zum Alltag. Rom guckt streng, Synagogen grenzen aus, und die kleine Jesusbewegung hängt zwischen allen Stühlen.

Die Welt, in die Matthäus schreibt, ist angespannt, aber auch voller Erwartung. Die alten Sicherheiten – Tempel, Opfer, klare Regeln – wackeln. Viele Juden haben den Traum vom Messias im Kopf, aber das Bild, das Jesus abgibt, passt für viele so gar nicht zu dem, was man erwartet hat. Statt heldenhafter Befreiung gibt’s Fußwaschungen, statt politischer Revolution geht’s um Demut, Barmherzigkeit und einen Gott, der sich unter die Leute mischt, die sonst keiner beachtet. Die ersten Christen erleben Ablehnung, Missverständnis und manchmal auch knallharte Verfolgung. Sie sind gezwungen, sich immer wieder zu fragen: Worauf können wir uns noch verlassen? Was heißt es, Gottes Volk zu sein, wenn der Tempel weg ist und die Synagoge einen rauswirft?

Der Anlass für Matthäus’ Evangelium ist so bodenständig wie existenziell: Die Gemeinde braucht Orientierung, Halt, und Antworten auf die Frage, warum sie an Jesus festhalten sollte, wenn um sie herum scheinbar alles zusammenbricht. Matthäus greift die alten Schriften auf, zeigt, dass Jesus nicht irgendein Prophet ist, sondern der Messias, der alles zusammenhält – auch und gerade dann, wenn die Welt aus den Fugen gerät. Er gibt den Lesern ein Handbuch an die Hand, wie man als Christ lebt, wenn man zwischen allen Fronten steht. Nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern als einer, der weiß, wie sich Unsicherheit anfühlt. Er spricht Menschen an, die fragen: Was bedeutet Glaube, wenn der Alltag so ganz anders aussieht als das, was man sich gewünscht hat?

In wenig Worten… Das Matthäusevangelium entsteht in einer Zeit zwischen Schutt und Sehnsucht, geschrieben für eine Gemeinde auf der Suche nach Identität, Sicherheit und einer tragfähigen Hoffnung – inmitten von Fremdherrschaft, religiösem Streit und jeder Menge offener Fragen. Es ist das Evangelium für Leute, die wissen, dass Glaube im Alltag stattfindet – nicht im Elfenbeinturm.

Als Nächstes steigen wir tiefer in die Schlüsselbegriffe des Textes ein, um zu entdecken, was Worte wie „Kind“, „Reich der Himmel“ oder „umkehren“ im damaligen Kontext wirklich bedeuten – nicht nur als Vokabel, sondern als Türöffner zu einer neuen Art zu leben.

Die Schlüsselwörter:

In diesem Abschnitt wollen wir uns genauer mit den Schlüsselwörtern aus dem Text befassen. Diese Worte tragen tiefere Bedeutungen, die oft in der Übersetzung verloren gehen oder nicht auf den ersten Blick ersichtlich sind. Wir werden die wichtigsten Begriffe aus dem ursprünglichen Text herausnehmen und ihre Bedeutung näher betrachten. Dabei schauen wir nicht nur auf die wörtliche Übersetzung, sondern auch darauf, was sie für das Leben und den Glauben bedeuten. Das hilft uns, die Tiefe und Kraft dieses Verses besser zu verstehen und ihn auf eine neue Weise zu erleben.

Matthäus 18,3–5 – Ursprünglicher Text (Nestle-Aland 28):

καὶ εἶπεν· Ἀμὴν λέγω ὑμῖν, ἐὰν μὴ στραφῆτε καὶ γένησθε ὡς τὰ παιδία, οὐ μὴ εἰσέλθητε εἰς τὴν βασιλείαν τῶν οὐρανῶν.

ὅστις οὖν ταπεινώσει ἑαυτὸν ὡς τὸ παιδίον τοῦτο, οὗτός ἐστιν ὁ μείζων ἐν τῇ βασιλείᾳ τῶν οὐρανῶν·

καὶ ὃς ἐὰν δέξηται ἓν παιδίον τοιοῦτο ἐπὶ τῷ ὀνόματί μου, ἐμὲ δέχεται.

Übersetzung Matthäus 18,3–5 (Elberfelder 2006):

Und er sprach: Wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr keinesfalls in das Reich der Himmel hineinkommen.

Darum, wenn jemand sich selbst erniedrigen wird wie dieses Kind, der ist der Größte im Reich der Himmel.

Und wenn jemand ein solches Kind in meinem Namen aufnimmt, nimmt er mich auf.

Semantisch-pragmatische Kommentierung der Schlüsselwörter

  • στραφῆτε (straphēte) – „umkehren“: Aorist, Passiv, Konjunktiv, 2. Person Plural von στρέφω. Das Wort trägt eine Grundbedeutung von „(sich) wenden“, „umdrehen“, im übertragenen Sinn „sich bekehren“, „transformiert werden“. Es ist nicht bloß eine äußerliche Wendung, sondern beschreibt einen radikalen Richtungswechsel – vom Eigenwillen zu Gottes Willen, vom Streben nach Status zur Bereitschaft, sich als abhängig, klein und bedürftig zu erkennen. Grammatikalisch unterstreicht der Aorist den einmaligen, grundlegenden Charakter dieses Wendepunkts, während das Passiv anzeigt, dass die eigentliche Kraft zur Umkehr von außen – also letztlich von Gott – wirkt (vgl. Jer 31,18: „Bekehr du mich, so werde ich bekehrt“).
  • γένησθε (genēsthe) – „werden“: Aorist, Medium, Konjunktiv, 2. Person Plural von γίνομαι. Das Verb meint ein „Werden“, „sich entwickeln zu“, „geboren werden“, „sich verwandeln“. Semantisch hebt das Medium hervor, dass der/die Handelnde an der eigenen Verwandlung beteiligt ist – es ist eine Transformation, an der Mensch und Gott beteiligt sind. Pragmatisch ist es mehr als Verhaltensänderung: Es geht um eine Identitätsverschiebung („werdet wie die Kinder“ – nicht: benehmt euch kindlich, sondern: werdet vom Wesen her anders).
  • ὡς τὰ παιδία (hōs ta paidia) – „wie die Kinder“: Das Bild ist keine Idylle kindlicher Unschuld (die Schrift kennt sehr wohl die Gefährdung und Sündhaftigkeit von Kindern, vgl. Ps 51,7). Vielmehr stehen Kinder im antiken Kontext für gesellschaftliche Unbedeutsamkeit, Schwäche, Schutzbedürftigkeit, Besitzlosigkeit und Vertrauensabhängigkeit. Das Kind ist Prototyp für den, der nichts vorzuweisen hat, keine Rechte einklagt und existenziell angewiesen ist. Pragmatisch heißt das: Die Haltung eines Kindes (Sich-Fallenlassen, Vertrauen, Offenheit für Empfang) ist hier der Schlüsselbegriff, nicht kindliche Naivität.
  • εἰσέλθητε (eiselthēte) – „hineinkommen“: Aorist, Aktiv, Konjunktiv, 2. Person Plural von εἰσέρχομαι. Das Verb kann den Eintritt in einen Raum oder Zustand meinen; hier ist es der Eintritt „in das Reich der Himmel“. Theologisch ist das kein bloßer Ortswechsel, sondern eine partizipatorische Annahme einer neuen Existenzweise. Pragmatisch steht „eintreten“ für Teilhabe am eschatologischen Heil.
  • ταπεινώσει (tapeinōsei) – „erniedrigen“: Futur, Aktiv, Indikativ, 3. Person Singular von ταπεινόω. Das Wort bedeutet wörtlich „erniedrigen“, „niedrig machen“, „demütigen“. Es ist ein Schlüsselbegriff der christlichen Ethik und Christusnachfolge (vgl. Phil 2,8: Jesus erniedrigte sich selbst). Semantisch liegt der Fokus auf der freiwilligen Selbsterniedrigung, nicht auf einer Demütigung durch andere oder blinder Selbstabwertung. Pragmatisch ist es der Gegenentwurf zu jeder Statuslogik: Wer sich (freiwillig!) „klein“ macht, wird in Gottes Wertordnung „groß“.
  • μείζων (meizōn) – „größer/der Größte“: Komparativ von μέγας („groß“). Im Kontext eine radikale Umwertung: Die echte Größe im Reich Gottes misst sich nicht an Leistung, Macht oder Einfluss, sondern am Maß der Demut und Selbsterniedrigung. Pragmatisch: Die Größe Gottes manifestiert sich in der Selbstentäußerung des Menschen.
  • δέξηται (dexētai) – „aufnehmen“: Aorist, Medium, Konjunktiv, 3. Person Singular von δέχομαι. Bedeutet „empfangen“, „annehmen“, „willkommen heißen“. In rabbinischer und antiker Gastfreundschaftspraxis ein Begriff für die Aufnahme ins eigene Haus, in die Gemeinschaft, ins Leben. Semantisch: Wer „ein Kind aufnimmt“ – also den scheinbar Unbedeutenden, Schutzlosen – nimmt Christus selbst auf. Pragmatisch: Gastfreundschaft und die Anerkennung der Geringen als Christusdienst.
  • ἐπὶ τῷ ὀνόματί μου (epi tō onomati mou) – „in meinem Namen“: Diese Wendung steht für Repräsentanz, Identifikation, Delegation: Wer im Namen Jesu handelt, handelt in seiner Autorität, seinem Geist, seinem Auftrag. Pragmatisch: Es geht um die Haltung, die aus der Beziehung zu Jesus erwächst – nicht um bloße Etikettierung.

In diesen wenigen Versen verdichtet Matthäus zentrale Achsen der Reich-Gottes-Theologie: Die Einlasskarte ist nicht Verdienst, sondern Demut; nicht Selbstdurchsetzung, sondern das riskante Offenbleiben für den Anderen – und für Gott. Jedes Schlüsselwort ist wie ein Faden, der in die Tiefe einer neuen Daseinsform reicht: Die Bewegung „weg von sich, hin zu Gott“ (στραφῆτε) ist kein einmaliges Ritual, sondern der Pulsschlag aller Nachfolge. Das „Werden“ (γένησθε) ist Identitätsarbeit am eigenen Herzen. Die „Erniedrigung“ (ταπεινώσει) ist nicht Defizit, sondern Königsweg. Und das „Aufnehmen“ (δέξηται) ist das Erkennen Christi in den Unscheinbaren. Das Reich der Himmel beginnt nicht, wo Menschen obenauf sind, sondern wo sie gelernt haben, unten zu leben – und darin groß zu werden.

Ein Kommentar zum Text:

Theologische Grundlage

Kaum ein Wort Jesu provoziert eine so existenzielle Unruhe wie die Forderung, „umzukehren und wie die Kinder zu werden“ (Matthäus 18,3). Der Text sperrt sich gegen einfache Zugänge. Wer in die Tiefe steigen will, muss bereit sein, die scharfen Kanten der Begriffe zu ertasten – στραφῆτε (straphēte – umkehren), γένησθε (genēsthe – werden), παιδία (paidia – Kinder), ταπεινώσει (tapeinōsei – erniedrigen, demütigen) und δέξηται (dexētai – aufnehmen). Schon im Urtext wird klar: Hier steht kein seichter Ruf zu kindlicher Naivität, sondern eine theologische Entzündung.

Der Imperativ στραφῆτε – ein Passiv in der Konjunktivform – meint nicht einfach eine Verhaltensänderung, sondern eine radikale Umwendung des inneren Standpunkts. Der Begriff stammt aus der Umkehrsemantik der Propheten (vgl. Jeremia 3,7; Joel 2,12), wird aber im Neuen Testament selten so zugespitzt wie hier. Die Passivform deutet: Umkehr ist weniger ein menschlicher Kraftakt als eine Bewegung, die an einem Menschen geschieht. Keener hebt hervor, dass „Jesus nicht eine Rückkehr zur Unmündigkeit fordert, sondern zur offenen, aufnehmenden Haltung, die ein Kind gegenüber Gnade und Autorität zeigt“ (Keener, Matthew). Damit meint Keener, dass es Jesus um die Haltung geht, sich beschenken zu lassen, nicht um Naivität. Es ist eine Offenheit, die fähig ist, Gottes Wirken zu empfangen. D. A. Carson spitzt dies zu, indem er betont, dass das Passiv „die Abhängigkeit von Gottes Eingreifen“ markiert – eine Absage an jede Idee geistlicher Selbstoptimierung (Carson, Matthew). Carson will damit sagen: Der Mensch kann diese Wendung nicht aus eigener Kraft erreichen, sondern muss sich Gottes Wirken öffnen – es ist ein Geschenk, keine religiöse Leistung.

γένησθε – „werden“ – ist grammatikalisch ein Aorist Konjunktiv, was einen einmaligen, aber entscheidenden Prozess meint. Es geht nicht um schrittweise Entwicklung, sondern um eine klare, begrenzte Wende – die einen Anfang markiert, aber keine Garantie für Stabilität gibt. Keener unterstreicht, dass in dieser Werdung nicht soziale Regression, sondern geistliche Neuverortung gemeint ist: „Kinder stehen hier als Sinnbild für eine Haltung, die sich empfänglich zeigt für Zuwendung, ohne eigene Ansprüche einzufordern.“ Keener will deutlich machen, dass Nachfolge Jesu kein Rückschritt in Kindlichkeit ist, sondern eine bewusste Entscheidung für eine offene, empfangende Lebenshaltung. Damit wird das „Werden wie Kinder“ zum Kontrapunkt gegen jede Leistungserwartung und das Machtspiel religiöser Erwachsener.

παιδία – das Pluralwort für „Kinder“ – bezeichnet im griechisch-römischen Kontext „soziale Rechtlose“, ohne Ansehen, ohne Stimme. Das Matthäusevangelium benutzt den Begriff an Schlüsselstellen, um „die Geringen“ als Muster des Gottesreichs zu profilieren (vgl. Mt 19,13–15). Senior hält fest: „Kinder sind im antiken Kontext alles andere als unschuldig oder rein, sondern schlicht machtlos. Genau das macht sie zum Vorbild für das Reich Gottes: Ihr Zugang ist unverfügbar, ihre Sicherheit nie garantiert“ (Senior, Matthew). Senior will damit die Perspektive verschieben: Es geht nicht um kindliche Tugenden, sondern um die Erfahrung von Machtlosigkeit, aus der heraus Abhängigkeit zu Gott überhaupt erst möglich wird. Hendriksen ergänzt, dass „der Wert eines Kindes nicht aus sich selbst kommt, sondern von der Wertschätzung und Annahme durch andere“ (Hendriksen, Matthew). Hendriksen betont: Der wahre Wert eines Menschen im Reich Gottes entsteht nicht durch eigene Leistung, sondern durch die Anerkennung, die Gott schenkt. Demut – das ταπεινόω – ist hier nicht die Pose des Bescheidenen, sondern Ausdruck existenzieller Bedürftigkeit.

ταπεινώσει (tapeinōsei) – das erniedrigende Sich-selbst-Niedrigmachen – steht im Futur und verweist auf einen Akt, der in der Nachfolge Jesu erst eingeübt werden muss. Carson weist darauf hin, dass sich in diesem Begriff sowohl das Potential für echten Gehorsam als auch für fromme Selbstinszenierung verbirgt: „Demut kann in ihrer extremen Form wieder zum Machtmittel werden. Die Warnung Jesu ist doppelt: Werde wie ein Kind, aber nutze diese Haltung nicht, um dich über andere zu erheben“ (Carson, Matthew). Carson mahnt also zur Selbstprüfung: Echte Demut bleibt immer gefährdet, sich in Stolz zu verkehren. Wilkins mahnt an, dass die „kindliche Demut immer kontextabhängig bleibt. Sie kann missbraucht oder instrumentalisiert werden, wenn Gemeinde beginnt, sich über die eigenen ‚Geringen‘ zu definieren“ (Wilkins, Matthew). Wilkins kritisiert damit, dass Gemeinden manchmal dazu neigen, Demut zu einem Abzeichen zu machen, um sich selbst als besonders geistlich darzustellen – ein Missbrauch, der Jesu Mahnung ins Gegenteil verkehrt.

Das zentrale Es-ist-wie-es-ist dieser Verse: Der Zugang zum Reich Gottes ist keine Frage von Leistung, sondern von Annahme. Wer wie ein Kind wird – schutzlos, abhängig, offen –, findet die Tür zum Reich offen. Wer sich dagegen an den eigenen Status oder an religiöse Selbstbehauptung klammert, steht vor verschlossener Tür. Das Reich Gottes – βασιλεία τῶν οὐρανῶν (basileia tōn ouranōn) – ist dabei nicht nur eine Zukunftsvision, sondern eine alternative Lebensordnung im Hier und Jetzt, in der Machtverhältnisse umgekehrt werden. Hauerwas sieht darin „eine fundamentale Verschiebung aller religiösen Ordnungen: Das Evangelium verkehrt die Bedeutung von Größe, indem es die scheinbar Schwächsten zum Maßstab erhebt“ (Hauerwas, Matthew). Hauerwas meint: Das Evangelium kehrt gesellschaftliche Maßstäbe um, der Maßstab Gottes ist nicht menschliche Leistung, sondern die Bereitschaft, seine Bedürftigkeit anzuerkennen und auf Gottes Zusage zu vertrauen. Diese Linie zieht sich durch das ganze Matthäusevangelium (vgl. Mt 5,3; Mt 23,11f.) und findet im Handeln Jesu an den Geringen ihren Höhepunkt.

Zugleich bleibt ein theologisches Ringen um die praktische Umsetzung dieser Haltung. Keener und Hendriksen widersprechen sich, wenn es um die Gefahr einer infantilen Lesart geht. Keener betont, dass die Aufnahme eines Kindes als Symbol für die radikale Aufnahme des Geringsten – letztlich Jesu selbst – steht: „Wer das Kind aufnimmt, nimmt Christus auf“ (Keener, Matthew). Keener sieht in der Aufnahme des Kindes ein geistliches Symbol: In jedem Geringen begegnet uns Christus selbst. Hendriksen dagegen warnt vor einer überzogenen Spiritualisierung: „Es reicht nicht, Kinder freundlich zu behandeln; es geht um die geistliche Annahme der Geringsten, ohne sie zu instrumentalisieren“ (Hendriksen, Matthew). Hendriksen mahnt, dass echte Annahme nie als Mittel zum Zweck verwendet werden darf, sondern immer um der Person selbst willen geschehen muss. Hauerwas legt den Finger in die Wunde: „Die Annahme des Kindes ist nicht nur ein diakonischer Akt, sondern eine Anerkennung der eigenen Bedürftigkeit – eine Bewegung weg von sich selbst“ (Hauerwas, Matthew). Hauerwas will klar machen, dass jede echte Annahme die Bereitschaft zur Selbstveränderung voraussetzt.

Die Autoren arbeiten die Spannung zwischen Geschenk und Gehorsam heraus. Carson und Senior zeigen, dass das Reich zwar unverdient ist, der Eintritt aber eine tatsächliche Umkehr verlangt: „Gott handelt zuerst, aber er nimmt den Menschen in die Verantwortung, sich vom eigenen Hochmut abzuwenden“ (Carson, Matthew; Senior, Matthew). Sie machen deutlich, dass die Zusage Gottes niemals zur Passivität führen darf – sie will eine Antwort im Leben des Menschen. Die „Umkehr“ ist nie ohne Antwort auf Gottes Anruf denkbar, aber auch nie ganz im menschlichen Zugriff. Wilkins bringt es auf den Punkt: „Die Einladung zum Reich ist universell, aber ihre Annahme bleibt immer Gnade und Risiko zugleich“ (Wilkins, Matthew). Das heißt: Jeder ist eingeladen, aber jeder bleibt herausgefordert, sich immer wieder neu für diese Einladung zu öffnen.

Diese Spannung wird verschärft durch die adventistische Perspektive auf das Reich Gottes als eschatologische Wirklichkeit – also als eine letzte, zukünftige und zugleich schon jetzt angebrochene Realität. „Eschatologie“ meint die Lehre von den letzten Dingen – insbesondere über das, was Gott am Ende der Zeit mit dieser Welt tun wird. Aus adventistischer Sicht ist das Reich Gottes nicht bloß eine Hoffnung auf die ferne Zukunft, sondern bricht bereits im Leben der Nachfolger Jesu an, zeigt sich in ihrer Haltung zu den Geringen und Schwachen – und wird erst bei Jesu Wiederkunft vollendet. Das Matthäusevangelium arbeitet mit einem doppelten Horizont: Die radikale Annahme der Geringen ist Bedingung für das Hier und Jetzt und Prüfstein für die kommende Welt. Hier berührt sich die Forderung Jesu mit der prophetischen Verheißung von Jesaja 57,15 („Ich wohne bei dem, der zerschlagenen und demütigen Geistes ist“) und Psalm 131 („Ich ließ meine Seele ruhig werden wie ein entwöhntes Kind“). Die Reich-Gottes-Logik läuft quer zu jeder Selbstbehauptung, gerade in religiösen Systemen, und zwingt die Gemeinde, immer wieder ihre eigenen Statusordnungen zu hinterfragen.

Wo bleibt der Raum für Bruch und Unfertigkeit? Vielleicht gerade dort, wo die Einladung zur Demut Gefahr läuft, selbst zur neuen Leistung zu werden. Keiner der Autoren kann diesen Widerspruch ganz auflösen. Die Spannung zwischen Geschenk und Gehorsam, zwischen Annahme und Aktivität, bleibt eine offene Wunde. Wie gelingt es, die kindliche Bedürftigkeit nicht zu idealisieren und zugleich nicht in infantile Passivität abzugleiten?

Am Ende bleibt die Einladung stehen, das „Werden wie die Kinder“ nicht als moralisches Programm oder sozialromantische Idee zu begreifen, sondern als Weg in die eigene Bedürftigkeit, in die Offenheit für Gottes unerwartetes Handeln. Die Verheißung des Textes ist leise, aber klar: Im Reich der Himmel ist der größte nicht der, der am meisten erreicht, sondern der, der sich am wenigsten festhält.

Das ist der Punkt, an dem der KERN-Prozess beginnt. KERN meint: Kontext verstehen, Existenz spüren, Reflexion wagen, Nachfolge gestalten – nicht als Technik, sondern als geistlicher Weg. Vielleicht liegt genau hier die offene Frage: Woran würde ich heute merken, dass ich nicht nur über Demut spreche, sondern wirklich selbst an der Tür zum Reich stehe?

KERN – Prozess

Mit dem KERN-Prozess wollen wir dem Bibeltext auf den Leib rücken – nicht oberflächlich, sondern existenziell. Was hat dieser Text mit meinem Inneren zu tun? Nicht aus Pflicht, sondern aus echtem Verstehen. Nicht als Anwendung, sondern als innerer Weg.

KERN steht für: Klarheit gewinnen, Erkenntnis vertiefen, Reaktion planen, Nachfolge leben – vier Schritte, die dich einladen, ehrlich, tief und offen mit dem Text zu arbeiten. Nicht theologisch abgehoben, aber auch nicht banal. Der Text ist nicht bloß ein Impuls, sondern ein Gesprächspartner. Und du bist eingeladen, dich auf dieses Gespräch einzulassen.

K – Klarheit gewinnen:

„Wenn ihr nicht umkehrt und wie die Kinder werdet…“ Was heißt das? Wie die Kinder? Unbedarft? Wehrlos? Abhängig? Ich merke, wie schnell ich das romantisiere. Doch je länger ich den Satz im lese – umkehren, sich wenden, neu ausrichten – desto mehr spüre ich: Hier steht nicht „werdet niedlich“, sondern „priorisiere deine Werte Skala anders“. Das Evangelium stellt nicht mich als Mensch infrage, sondern meine Grundausrichtung: Wer will ich sein, wenn ich nichts beweisen kann? Bin ich bereit, meine Masken, meine Kontrolle, mein Bedürfnis, für mich zu sorgen, abzugeben? Oder ist Kind-Sein für mich ein Alptraum? Die Klarheit beginnt da, wo ich mich ehrlich frage, ob ich überhaupt noch weiß, wie man „sich fallenlassen“ buchstabiert.

E – Erkenntnis vertiefen:

Der Text zeigt Gott als einen, der sich für das Unspektakuläre entscheidet. Nicht für die Mächtigen, sondern für die Übersehbaren. Gottes Reich beginnt an der Grenze meiner Bedürftigkeit. παιδίον (paidion) – Kind, Kleines, im Griechischen das Sprachbild für das Geringgeachtete. Hier wird, wie schon gesagt, nicht das süße, brave Kind gepriesen, sondern das, was im Machtspiel der Erwachsenen keine Rolle spielt. Das Reich Gottes ist ein Skandal der Umwertung: Wer unten ist, steht bei Gott oben. Und ich? Kann ich diese Verkehrung aushalten? Es kratzt an meinem Selbstbild, dass Nachfolge nicht die Krönung meines geistlichen Werdegangs ist, sondern der Verlust von Rang und Einfluss.

R – Reaktion planen:

Mein erster Reflex ist Abwehr. Ich will nicht auf Sicherheit verzichten, will nicht klein, abhängig oder unsichtbar sein. Aber wenn ich ehrlich bin, gibt es in meinem Leben genug Situationen, in denen ich gerade darin gescheitert bin, Größe vorzutäuschen. Wie wäre es, die Maske abzulegen – nicht aus Demuts-Performance, sondern weil es die einzige Chance ist, echt zu werden? Vielleicht braucht es einen kleinen Schritt: manchmal zugeben, dass ich Angst habe. Oder dass ich nicht weiterweiß. Nicht, weil das bewundert wird, sondern weil ich mich in diesem Punkt der Gnade öffne. Es klingt wie eine Wiederholung, aber für mich bleibt das eine der härtesten Übungen: Schwäche nicht als Defizit, sondern als Einladung zu erleben. Der Text sagt schließlich nicht „werdet nutzlos.”

N – Nachfolge leben:

Nachfolge ist nicht der perfekte Sprint zum nächsten Level. Es ist die Übung, mich jeden Tag wieder in die Unsicherheit zu begeben, das zu geben/machen was dran ist und dabei mich nicht zu beweisen, sondern zu empfangen. Manchmal wird daraus ein ungeschicktes Gebet, ein ehrliches Gespräch, ein leises Eingeständnis der Bedürftigkeit. Oft bleibt mehr Frage als Antwort. Aber vielleicht ist das gerade der Raum, in dem Christus wirklich gegenwärtig wird: nicht in meiner Souveränität, sondern in meiner Bedürftigkeit. Der KERN-Prozess ist für mich weniger eine Methode als ein geistliches Stolpern – mit jedem Schritt ein bisschen weniger Maske, ein bisschen mehr Kind.

Und was, wenn am Ende nur bleibt, dass ich an diesem Text immer wieder scheitere? Ist das vielleicht genau der Punkt, an dem Gottes Reich seinen Anfang nimmt?

Zentrale Punkte der Ausarbeitung

  1. Umkehr ist kein Kinderspiel, sondern Zumutung. Wer diesen Text nur liest, um spirituelle Ratschläge für den Alltag abzugreifen, landet schnell in der Sackgasse. Das Jesuswort über die Umkehr zu werden „wie die Kinder“ (Matthäus 18,3–5) ist kein Wohlfühlprogramm, sondern eine Herausforderung. Hier geht es nicht um das Kindchenschema, sondern um eine radikale Neubewertung von Größe, Bedeutung und Status. Das Reich Gottes stellt alles auf den Kopf: Es zählt nicht, was du kannst, sondern ob du dich hingeben kannst. Warum? Weil das Evangelium nicht nach Effizienz fragt, sondern nach Echtheit. Es ist unbequem, sich in der eigenen Bedürftigkeit zu zeigen – aber genau hier beginnt geistliche Reife.
  2. Demut ist kein Defizit, sondern Voraussetzung für Gemeinschaft. Das griechische ταπεινόω (tapeinoō) – „sich erniedrigen, klein machen“ – beschreibt nicht die Selbstverleugnung als Show, sondern einen bewussten Rollenwechsel: Der, der sich herunterbegibt, öffnet den Raum für echte Beziehung. Größe entsteht nicht durch Durchsetzung, sondern durch die Bereitschaft, Platz zu machen für andere – und für Gott. Warum? Weil nur, wer sich nicht für das Zentrum hält, Gemeinschaft ermöglicht. Das ist mehr als eine moralische Regel: Es ist die Grundmelodie des Reiches Gottes.
  3. Das Kind als Bild für Bedürftigkeit und Vertrauen, nicht für Naivität. Jesus idealisiert nicht das Kindliche, sondern wählt das Kind als Symbol für existenzielle Offenheit. παιδίον (paidion) steht im Neuen Testament für das Übersehene, das Angewiesene, nicht für das Unschuldslamm. Gott setzt auf die, die sich empfangen lassen – nicht auf die, die alles selbst in der Hand haben wollen. Warum? Weil im Empfangenen mehr göttliche Wahrheit liegt als im Gemachten. Der Glaube beginnt dort, wo wir loslassen.
  4. Das Reich Gottes sprengt die Rangordnung unserer Welt. Hierarchien, Leistung, Macht – all das hat im Gottesreich keine Dauerlizenz. Die Pointe: Wer sich freiwillig an das Ende der Reihe stellt, den sieht Gott ganz vorn. Warum? Weil Gerechtigkeit im Reich Gottes nicht „gleich machen“ heißt, sondern „gerecht machen“ – also allen Raum geben, in dem sie werden dürfen, was sie sind.
  5. Nachfolge wird konkret im Umgang mit den Geringen. Das Aufnehmen eines Kindes „in meinem Namen“ (Matthäus 18,5) ist keine Metapher für Freundlichkeit, sondern der Lackmustest echter Jüngerschaft. Wie ich mit denen umgehe, die keine Stimme haben, zeigt, ob ich verstanden habe, was es heißt, Jesus nachzufolgen. Warum? Weil Nachfolge nicht in der Distanz, sondern in der Nähe zu den Geringen sichtbar wird – das ist der Ernstfall der Liebe.

Warum ist das wichtig für mich?

Weil diese Verse alles aufbrechen, was ich über Rang, Macht, Glauben und Größe gelernt habe. Sie zwingen mich, meine eigenen Sicherheiten zu hinterfragen und zu fragen: Wo hänge ich am Bild des Erwachsenen, der alles im Griff hat? Wo brauche ich die Freiheit, loszulassen und zu empfangen?

Diese Ausarbeitung ist kein Handbuch für bessere Spiritualität, sondern eine Einladung, das Evangelium an der schmerzhaften, heilenden Wurzel zu erleben – in meinem Alltag, in meinen Beziehungen, in meinem Umgang mit Macht und Ohnmacht.

Der Mehrwert:

Wer diese Zumutung annimmt, wird merken: Glaube ist kein Upgrade, sondern manchmal ein Downgrade – weg von Selbstdarstellung, hin zu ehrlicher Bedürftigkeit. Der Wert liegt nicht in der Perfektion, sondern in der Offenheit für Gott und andere.

Oder anders: Ich muss nicht perfekt werden, um von Gott gesehen zu werden – ich muss nur bereit sein, die Schutzschichten abzulegen und mich neu ausrichten zu lassen. Wer das wagt, findet im Kindsein keinen Rückschritt, sondern den Anfang echten Lebens.

Kurz gesagt: Wer sich von diesem Text treffen lässt, der entdeckt: Das Reich Gottes ist kein Ziel für Überflieger – sondern für die, die bereit sind, ihre Flügel zu falten und sich tragen zu lassen.