Fettgedrucktes für schnell Leser…
Einleitender Impuls:
Gestern riefen sie noch „Hosanna“. Heute sagt Jesus: Ich wollte euch sammeln – aber ihr habt nicht gewollt. Und ich sitze da und merke: Dieser Satz trifft mich mehr als der Jubel. Weil er nicht laut ist, sondern leise. Weil er nicht fordert, sondern trauert. Weil er nicht irgendwo hinzeigt – sondern mitten in mein Herz.
In Matthäus 23,37 blickt Jesus auf Jerusalem – auf die Stadt der Hoffnung, der Verheißung, der Geschichte Gottes. Und er weint. Nicht über die Zukunft, sondern über die Entscheidung, die längst gefallen ist: dass Menschen Nähe ablehnen, obwohl sie angeboten wird. Nicht aus Bösartigkeit. Sondern — vielleicht… aus innerer Unbeweglichkeit, aus Enttäuschung, aus geistlicher Müdigkeit. Und ich frage mich: Wie oft war ich Jerusalem? Wie oft wollte Jesus mich rufen – aber ich war mit anderem beschäftigt? Mit guten Dingen. Mit geistlichen Dingen. Mit allem außer Nähe.
Dieser Montag ist nicht das Ende des Jubels – er ist der Moment, in dem man sich fragt, ob der eigene Glaube bereit ist für einen Gott, der nicht durchsetzt, sondern leidet. Der nicht mit brutaler Macht kommt, sondern mit Tränen. Und ich spüre: Ich will sofort antworten. Aber ehrlich. Nicht mit einem „Ja, Herr!“ aus Reflex, sondern mit einem langsamen, echten Schritt zurück unter seine Flügel. Vielleicht ist das mein Satz für heute – und vielleicht auch deiner: Nicht triumphieren. Sondern gesammelt werden. Und das beginnt nicht auf dem Höhepunkt des Glaubens. Sondern genau hier.
Fragen zur Vertiefung oder für Gruppengespräche:
- Wann hast du zuletzt Gottes Nähe gespürt – und hast vielleicht trotzdem auf Abstand gehalten?
- Welche „frommen Aktivitäten“ könnten dich davon abhalten, Gott wirklich zu begegnen?
- Was wäre für dich heute ein ehrlicher Schritt zurück unter Gottes Flügel – und was hindert dich daran?
Parallele Bibeltexte als Slogans mit Anwendung:
Psalm 91,4 – „Unter seinen Flügeln wirst du dich bergen.“ → Gottes Nähe ist kein Konzept, sondern ein Ort.
Lukas 13,34 – „Wie oft wollte ich euch sammeln…“ → Jesu Sehnsucht endet nicht bei deiner Ablehnung.
Hebräer 3,15 – „Heute, wenn ihr seine Stimme hört…“ → Gnade hat ein Jetzt – nicht nur ein Irgendwann.
Offenbarung 3,20 – „Ich stehe vor der Tür und klopfe an.“ → Jesus wartet – aber er drängt sich nicht auf.
Wenn du spüren willst, warum dieser Vers mitten ins Herz der Karwoche trifft und was das mit deinem Leben zu tun hat, dann nimm dir 20 Minuten Zeit und lies die ganze Betrachtung – es könnte einer der ehrlichsten Momente deiner Woche werden.
Möchtest du dich noch weiter in dieses Thema vertiefen? Im Anschluss findest du die Schritte die ich für diesen Impuls gegangen bin…
Bevor wir gemeinsam in Matthäus 23,37 eintauchen, wo Jesus über Jerusalem klagt und gleichzeitig sein Herz ausschüttet, lass uns kurz innehalten und mit einem Gebet beginnen.
Liebevoller Vater, du bist kein ferner Beobachter, sondern ein Gott mit offenen Armen – einer, der sammelt, nicht zerstreut. „Wie oft wollte ich deine Kinder sammeln, wie eine Henne ihre Küken unter ihre Flügel sammelt“ – das ist dein Herzschlag, dein Sehnen, deine Liebe. Und doch hören wir in diesem Vers auch den Schmerz der Ablehnung, den Klang deines gebrochenen Herzens.
Wir kommen heute zu dir – mit unseren eigenen verschlossenen Türen, mit unserem manchmal widerwilligen Inneren. Und wir bitten dich: Zeig uns, was in diesen Worten steckt. Nicht nur für Jerusalem damals, sondern für uns heute.
Mach uns wach für deinen Ruf, ehrlich über unser eigenes „Ich will nicht“ nachzudenken – und bereit, uns sammeln zu lassen.
In Jesu Namen,
Amen.
Gut. Dann lass uns jetzt nicht nur über einen Klagevers reden – sondern darüber, wie Gottes Liebe klingt, wenn sie verletzt ist.
Der Text:
Zunächst werfen wir einen Blick auf den Text in verschiedenen Bibelübersetzungen. Dadurch gewinnen wir ein tieferes Verständnis und können die unterschiedlichen Nuancen des Textes in den jeweiligen Übersetzungen oder Übertragungen besser erfassen. Dazu vergleichen wir die Elberfelder 2006 (ELB 2006), Schlachter 2000 (SLT), Luther 2017 (LU17), Basis Bibel (BB) und die Hoffnung für alle 2015 (Hfa).
Matthäus 23,37
ELB 2006 Jerusalem, Jerusalem, die da tötet die Propheten und steinigt, die zu ihr gesandt sind! Wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, wie eine Henne ihre Küken versammelt unter ihre Flügel, und ihr habt nicht gewollt!
SLT Jerusalem, Jerusalem, die du die Propheten tötest und steinigst, die zu dir gesandt sind! Wie oft habe ich deine Kinder sammeln wollen, wie eine Henne ihre Küken unter die Flügel sammelt, aber ihr habt nicht gewollt!
LU17 Jerusalem, Jerusalem, die du tötest die Propheten und steinigst, die zu dir gesandt sind! Wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, wie eine Henne ihre Küken versammelt unter ihre Flügel; und ihr habt nicht gewollt!
BB »Jerusalem, Jerusalem! Du tötest die Propheten und steinigst die Boten, die Gott zu dir sendet! Wie oft wollte ich deine Kinder um mich versammeln – wie eine Henne ihre Küken unter ihren Flügeln beschützt. Aber ihr habt nicht gewollt.
HfA »Jerusalem! O Jerusalem! Du tötest die Propheten und steinigst die Boten, die Gott zu dir schickt. Wie oft schon wollte ich deine Bewohner um mich sammeln, so wie eine Henne ihre Küken unter ihre Flügel nimmt! Aber ihr habt es nicht gewollt.
Der Kontext:
In diesem Abschnitt geht es darum, die grundlegenden Fragen – das „Wer“, „Wo“, „Was“, „Wann“ und „Warum“ – zu klären. Das Ziel ist es, ein besseres Bild von der Welt und den Umständen zu zeichnen, in denen dieser Vers verfasst wurde. So bekommen wir ein tieferes Verständnis für die Botschaft, bevor wir uns den Details widmen.
Kurzgesagt: Wir hören Jesus weinen – nicht laut, aber unüberhörbar. Matthäus 23,37 ist kein theologischer Lehrsatz, sondern ein letzter, sehnsüchtiger Ruf. Er spricht nicht über Jerusalem – er spricht mit ihr.
Heute sind wir wieder mit Jesus in der Hauptstadt unterwegs. Und wenn du dich an die letzten Kapitel erinnerst, dann weißt du: Die Stimmung kippt. Es wird eng. Jerusalem, die Stadt der Pilger, des Tempels, der Hoffnung – sie wird hier zum Symbol für Verweigerung, für verhärtete Herzen und taube Ohren. Und das bricht ihm das Herz.
Die Szene spielt in der heißen Phase vor dem Passahfest. Die Stadt ist voller Menschen, voller Spannung, voller Erwartung – und gleichzeitig blind für das, was sich da direkt vor ihren Augen abspielt. Jesus ist nicht zum ersten Mal in Jerusalem. Er hat geredet, geheilt, gewarnt, gerufen. Und jetzt? Jetzt klagt er. Was folgt, ist der letzte öffentliche Auftritt vor seiner Verhaftung – und dieser letzte Moment ist nicht laut, sondern traurig.
Der Text steht am Ende einer langen, schonungslosen Rede, in der Jesus den religiösen Führern ihrer Zeit den Spiegel vorhält. Sie haben das Gesetz studiert, gelehrt – und doch am eigentlichen Kern vorbeigelebt. Er wirft ihnen keine theologischen Fehler vor, sondern moralische Blindheit. Und diese Blindheit hat Geschichte: Jerusalem hat Propheten getötet. Immer wieder. Und jetzt – in wenigen Tagen – wird sie es wieder tun.
Jesus steht in dieser Linie, aber er tut es nicht distanziert. Sein Ruf ist kein Strafurteil, sondern ein letzter Versuch. „Wie oft wollte ich euch sammeln…“ – das ist die Sprache eines Gottes, der nicht auf Abstand bleibt, sondern unter die Flügel nimmt. Die Henne ist kein Machtbild, sondern ein Schutzbild. Wärme, Nähe, Geborgenheit – und doch: „Ihr habt nicht gewollt.“ Das ist keine theologische Spitzfindigkeit, sondern ein Schmerz, der weh tut.
Der Satz „Euer Haus wird euch leer gelassen“ ist kein Fluch, sondern eine nüchterne Tatsache. Der Tempel, geistliches Herz Israels, wird verwaist zurückbleiben. Nicht, weil Gott plötzlich willkürlich richtet, sondern weil seine Gegenwart konsequent abgelehnt wurde. Wo man die Nähe Gottes systematisch auslädt, bleibt irgendwann wirklich nur noch Leere.
Und doch schließt Jesus nicht mit Bitterkeit. „Bis ihr sagt…“ – da liegt etwas Zukünftiges, etwas Offenes, vielleicht sogar Hoffnungsvolles. Es klingt wie ein Nachsatz – und ist doch ein Versprechen. Nicht alles ist vorbei. Noch nicht.
Für heute halten wir fest: Dieser Text ist kein Denkmal der Verurteilung, sondern ein Zeugnis einer Liebe, die nicht gezwungen werden will. Und darin liegt seine Tiefe.
Im nächsten Schritt schauen wir uns die Schlüsselworte im Text an – denn zwischen „sammeln“ und „nicht gewollt“ liegt ein ganzer Kosmos. Bereit? Dann gehen wir weiter.
Die Schlüsselwörter:
In diesem Abschnitt wollen wir uns genauer mit den Schlüsselwörtern aus dem Text befassen. Diese Worte tragen tiefere Bedeutungen, die oft in der Übersetzung verloren gehen oder nicht auf den ersten Blick ersichtlich sind. Wir werden die wichtigsten Begriffe aus dem ursprünglichen Text herausnehmen und ihre Bedeutung näher betrachten. Dabei schauen wir nicht nur auf die wörtliche Übersetzung, sondern auch darauf, was sie für das Leben und den Glauben bedeuten. Das hilft uns, die Tiefe und Kraft dieses Verses besser zu verstehen und ihn auf eine neue Weise zu erleben.
Matthäus 23,37 – Ursprünglicher Text (Nestle-Aland 28):
Ἰερουσαλὴμ Ἰερουσαλήμ, ἡ ἀποκτείνουσα τοὺς προφήτας καὶ λιθοβολοῦσα τοὺς ἀπεσταλμένους πρὸς αὐτήν, ποσάκις ἠθέλησα ἐπισυναγαγεῖν τὰ τέκνα σου, ὃν τρόπον ὄρνις ἐπισυνάγει τὰ νοσσία αὐτῆς ὑπὸ τὰς πτέρυγας, καὶ οὐκ ἠθελήσατε.
Übersetzung Matthäus 23,37 (Elberfelder 2006):
„Jerusalem, Jerusalem, die du die Propheten tötest und steinigst, die zu dir gesandt sind! Wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, wie eine Henne ihre Küken unter ihre Flügel sammelt, und ihr habt nicht gewollt!“
Semantisch-pragmatische Kommentierung der Schlüsselwörter
- ἀποκτείνουσα (apokteinousa) – „die du tötest“: Das Verb apokteinō meint nicht einfach „jemand stirbt“, sondern bewusstes Töten – aktiv, willentlich, endgültig. Jerusalem wird hier nicht als passiver Ort dargestellt, sondern als handelnde Täterin. Diese Anklage ist scharf: Die Stadt, die Ort der Anbetung sein sollte, wird zum Ort des Mordes an Gottes Boten.
- προφήτας (prophētas) – „Propheten“: Der Begriff prophētēs ist im Judentum heilig – ein Sprachrohr Gottes, kein Meinungsverstärker. Dass genau diese Personen getötet werden, stellt die ganze religiöse Identität Jerusalems in Frage. Es geht um die Verweigerung gegenüber göttlicher Wahrheit – nicht aus Unwissenheit, sondern aus Ablehnung.
- λιθοβολοῦσα (lithobolousa) – „die du steinigst“: Steinigen war nicht nur eine Todesstrafe, sondern ein sozialer Akt der Ausgrenzung, oft religiös motiviert. Wer gesteinigt wurde, galt als gottlos. Ironischerweise werden hier Gottes eigene Gesandte so behandelt – das religiöse System richtet sich gegen seine Quelle.
- ἀπεσταλμένους (apestalmenous) – „die gesandt sind“: Apostellō bedeutet „absenden mit einer Mission“. Diese Menschen sind nicht einfach unterwegs, sie sind Beauftragte Gottes. Und genau sie werden verworfen. Hier liegt eine doppelte Tragik: Der Gesandte kommt aus Liebe – und wird empfangen wie ein Feind.
- ἠθέλησα (ēthelēsa) – „ich habe gewollt“: Das Verb thelō beschreibt nicht nur ein Wünschen, sondern ein tiefes, inneres Wollen – fast ein Sehnen. Jesus spricht hier nicht als distanzierter Prophet, sondern als jemand, der sich selbst angeboten hat. Das ist der Klang eines Gottes, der sammelt – nicht zwingt.
- ἐπισυναγαγεῖν (episynagagein) – „versammeln“: Ein technisches Wort, das im Judentum mit dem Akt der Sammlung Israels verbunden ist – ein Bild für Wiederherstellung, Heimat, Schutz. Jesus sagt nicht: „Ich wollte predigen“, sondern: „Ich wollte euch nahe sein. Ich wollte euch zusammenbringen.“
- τέκνα (tekna) – „Kinder“: Tekna meint nicht einfach „Nachkommen“, sondern geliebte, schutzbedürftige Zugehörige. Der Ausdruck ist emotional, fast intim. Jesus will nicht Massen retten, sondern persönlich ansprechbare, einzelne Menschen – als Kinder.
- τρόπον (tropon) – „wie“: Dieses kleine Wort ist der Brückenschlag zur Metapher. Es zeigt, dass Jesus nicht nur eine Handlung beschreibt, sondern eine Haltung. Die Art, wie er sammeln will, ist nicht militärisch oder organisatorisch, sondern mütterlich, fürsorglich, warm.
- ὄρνις (ornis) – „Henne“: Ein überraschend zärtliches Bild. Jesus vergleicht sich nicht mit einem Löwen, sondern mit einer Henne. Schutz, Nähe, verletzliche Liebe. Wer das lächerlich findet, hat nicht verstanden, was göttliche Fürsorge bedeutet.
- ἐπισυνάγει (episynagei) – „versammelt“: Wieder das gleiche Verb – diesmal aktiv von der Henne. Was Jesus sich wünscht, tut die Henne ganz selbstverständlich. Es ist ein reflexhafter Akt der Liebe: Da ist Gefahr – also sammelt sie. So hätte auch Jesus gehandelt – wenn man ihn nur gelassen hätte.
- νοσσία (nossia) – „Küken“: Noch zarter als „Kinder“. Kleine, hilflose, gefährdete Wesen, die sich selbst nicht retten können. Das macht die Ablehnung so tragisch: Diejenigen, die Schutz brauchen, verweigern ihn sich selbst.
- πτέρυγας (pterygas) – „Flügel“: In der jüdischen Bildsprache sind Flügel Symbole für Schutz und Gegenwart Gottes (vgl. Ps 91,4). Jesus beansprucht damit nicht nur Fürsorge – sondern den Ort, wo Gottes Nähe wohnt.
- ἠθελήσατε (ēthelēsate) – „ihr habt nicht gewollt“: Das letzte Wort ist ein Spiegel. Das gleiche Verb wie oben – nur jetzt in der zweiten Person Plural. Jesus will – aber ihr wollt nicht. Kein Missverständnis. Kein theologisches Problem. Eine Entscheidung.
Dieser eine Vers trägt die ganze Spannung zwischen göttlicher Liebe und menschlicher Freiheit. Es ist kein theologisches Konstrukt, sondern ein dramatischer Dialog: Jesus sagt „Ich wollte“, das Volk sagt „Wir nicht“. Und genau da treffen Himmel und Erde aufeinander – nicht mit Donner, sondern mit Tränen.
Im nächsten Schritt schauen wir uns an, was genau dieser Dialog theologisch bedeutet. Was sagt das über Gottes Wesen, über Gericht, über Freiheit – und über Hoffnung? Wir gehen tiefer.
Ein Kommentar zum Text:
Jesus steht vor Jerusalem – nicht als Ankläger, sondern als jemand, der geliebt hat und daran leidet. Der doppelte Ruf „Jerusalem, Jerusalem“ ist kein Zornesausbruch, sondern eine gebrochene Liebeserklärung. Das ist nicht der Ton eines Richters, sondern die Stimme eines Hirten, der seine Herde gesucht und nicht gefunden hat.
Der zentrale Spannungsbogen dieses Verses liegt in zwei nahezu identischen Verben, die unterschiedlicher nicht sein könnten: ἠθέλησα (ēthelēsa) – „ich habe gewollt“ und ἠθελήσατε (ēthelēsate) – „ihr habt nicht gewollt“. Jesus sehnt sich danach, zu retten. Doch der Wille, den Menschen gelassen wird, wird gegen ihn eingesetzt. Kein theologischer Zufall, sondern eine ernste Realität: Gott zwingt niemanden in seine Nähe.
Gerhard Maier nennt Jesu Wunsch einen „Retterwillen“ – ein zutiefst personaler, heilsgeschichtlicher Wille, der in der Verweigerung Jerusalems nicht einfach enttäuscht, sondern konfrontiert wird. Es ist ein göttliches „Ich will“, das am menschlichen „Ich will nicht“ zerbricht. Das ist nicht theoretische Theologie – das ist das Evangelium im Modus des Schmerzes.
Jesus greift auf ein alttestamentliches Bild zurück: die schützenden Flügel Gottes (vgl. Psalm 91,4; Jesaja 31,5). Doch er gebraucht es nicht aus der Distanz. Er stellt sich selbst an die Stelle Gottes. Nicht wie Mose oder Jesaja, sondern in der „Ich“-Form des göttlichen Redens. Er wollte sammeln – und zwar nicht mit Gewalt, sondern wie eine ὄρνις (ornis), eine Henne, die ihre Küken νοσσία (nossia) unter die πτέρυγες (pteryges) ruft. Dieses Bild ist sanft, aber nicht schwach. Es ist verletzlich.
N. T. Wright betont: Jesus verkörpert hier nicht nur die Geschichte Israels, sondern den Ort, an dem sie umgedeutet wird. Er wird selbst zum Brennpunkt des Gerichts – nicht, um es weiterzugeben, sondern um es aufzufangen. Wer ihn ablehnt, lehnt nicht nur einen Boten ab, sondern die Sammlung selbst – die Einladung zur Nähe. Wright nennt das eine verpasste Chance. Vielleicht ist es mehr: eine verlorene Möglichkeit zur Umkehr, die nur durch Gnade erneut eröffnet wird.
Und genau diese Gnade steht noch im Raum. Joachim Gnilka sieht in diesem Vers eine prophetische Struktur: Klage – Gericht – Hoffnung. „Bis ihr sagt…“ ist kein Beweis für eine geschlossene Tür, sondern für eine, die offen bleibt. Die Tempelverheißung (Mt 23,38) wird aufgehoben durch den, der selbst zum neuen Tempel wird (vgl. Joh 2,19). Das alte Haus wird leer – nicht weil Gott geht, sondern weil man ihn nicht empfangen will.
In adventistischer Perspektive ist das keine Randnotiz. Die Linie von Matthäus 23 geht über 24 weiter – hin zum endzeitlichen Ruf Gottes an die Völker. Offenbarung 14,6–7 zeigt: Der Ruf Gottes bleibt bestehen – ewig gültig, weltweit hörbar, frei beantwortbar. Kein Volk wird „ersetzt“, keine Geschichte gelöscht. Aber der Zugang bleibt an den Ruf gebunden: „Fürchtet Gott und gebt ihm die Ehre…“
Was bleibt also? Ein Schmerz, der nicht in Bitterkeit endet. Ein Ruf, der nicht verstummt. Und ein Gott, der nicht aufhört zu sammeln – auch wenn er abgewiesen wird.
Willst du dich sammeln lassen? Oder bleibst du draußen – auf Distanz, aus Prinzip, aus Stolz, aus Müdigkeit? Vielleicht ist heute ein Moment, an dem es gut wäre, die Richtung zu prüfen. Denn seine Flügel sind noch ausgestreckt.
Im nächsten Schritt schauen wir, was dieser Vers konkret mit unserem Leben macht – in der SPACE-Anwendung. Denn Worte wie diese wollen nicht nur verstanden, sondern beantwortet werden.
Die SPACE-Anwendung*
Die SPACE-Anwendung ist eine Methode, um biblische Texte praktisch auf das tägliche Leben anzuwenden. Sie besteht aus fünf Schritten, die jeweils durch die Anfangsbuchstaben von „SPACE“ repräsentiert werden:
S – Sünde (Sin)
Was dieser Vers auf den Punkt bringt, ist nicht bloß ein einzelner Fehltritt, sondern eine Haltung: das bewusste Nein zur Nähe Gottes. Dieses Nein ist nicht laut oder rebellisch. Es ist oft leise, höflich, innerlich – aber deshalb nicht weniger folgenreich. Sünde erscheint hier nicht als Skandal, sondern als geistliche Selbstisolation: Ich höre den Ruf, aber ich will nicht antworten. Ich weiß, wo Schutz wäre, aber ich bleibe draußen. Aus Stolz? Aus Angst? Aus Müdigkeit? Es passiert.
Biblisch gesehen greift Jesus hier ein bekanntes Muster auf – das der Verstockung. Schon in Jesaja 6,9–10 oder Johannes 12,40 wird deutlich: Herzen können taub werden für das, was eigentlich rettet. Nicht, weil Gott sich entzieht, sondern weil man sich so lange verschließt, bis nichts mehr durchdringt. Und das Tragische: Selbst dann bleibt Gottes Liebe bestehen. Aber sie drängt sich nicht auf.
P – Verheißung (Promise)
Trotz des Schmerzes, der in diesem Vers mitschwingt, bleibt ein Hoffnungsfunke bestehen: „Wie oft wollte ich euch sammeln…“ Das zeigt: Gottes Ruf ist kein einmaliger Versuch, sondern ein beharrliches Werben. Wer unter seinen Flügeln Zuflucht sucht, der wird nicht zurückgewiesen. Psalm 91,4 sagt: „Unter seinen Flügeln wirst du dich bergen.“ Nicht vielleicht. Nicht möglicherweise. Sondern wirst.
Und bemerkenswert ist: Gerade in der Ankündigung des Gerichts bleibt die Einladung bestehen. Jesus sagt nicht: „Ihr habt nicht gewollt – also war’s das.“ Er sagt: „Bis ihr sagt…“ Es ist Gericht, ja. Aber kein abgeschlossenes. Die Gnade lebt weiter – nicht trotz des Gerichts, sondern mittendrin. Denn Liebe, die nicht mehr einlädt, wäre keine Liebe mehr.
A – Aktion (Action)
Vielleicht wäre heute ein guter Moment, um sich zu fragen: Wo verweigere ich Nähe, obwohl ich sie brauche? Nicht aus Bosheit, sondern vielleicht aus Enttäuschung, Misstrauen oder Kontrollbedürfnis. Der erste Schritt könnte sein, das eigene innere „Ich will nicht“ ehrlich wahrzunehmen – nicht um sich zu schämen, sondern um zu erkennen: Auch das darf angesprochen werden.
Und dann: sich erinnern, wer da ruft. Es ist nicht der fordernde Gott, sondern der, der sich selbst wie eine Henne dem Feuer aussetzt, damit wir nicht verbrennen. Das Kreuz ist keine Drohgebärde, sondern ein Flügelpaar in Flammen. Jesus stellt sich dem, was uns bedroht – nicht, um uns zu überführen, sondern zu bergen. Eine Möglichkeit wäre, in einem stillen Gebet genau das auszusprechen: „Jesus, ich will. Aber hilf meinem Widerstand.“ Nicht glänzend, sondern echt. Und vielleicht merkst du: In der Antwort beginnt schon die Sammlung.
Auch praktisch: Schaffe Räume, in denen du dich rufen lassen kannst. Vielleicht ist es Stille. Vielleicht ein Lied, das dich trifft. Vielleicht ein Gespräch, das dich ehrlich werden lässt. Nähe beginnt dort, wo wir aufhören zu kämpfen – und anfangen zu vertrauen. Nicht alles muss sofort anders sein. Aber heute kann ein Anfang sein.
C – Appell (Command)
Der Imperativ liegt nicht im Ton, sondern in der Träne. „Wie oft wollte ich…“ ist kein moralischer Zeigefinger, sondern ein zitterndes Gebet. Der Appell heißt nicht: „Mach endlich“, sondern: „Lass dich sammeln.“ Gib nicht dem inneren Widerstand das letzte Wort. Wage das Vertrauen – auch wenn du nicht weißt, wie es ausgeht.
Es wäre gut, wenn wir uns erinnern: Jesus ruft nicht, weil er uns braucht, sondern weil er uns liebt. Und wer sich rufen lässt, findet nicht Enge, sondern Geborgenheit. Nicht Religion, sondern Beziehung. Nicht Kontrolle, sondern Heimat.
E – Beispiel (Example)
Jerusalem selbst ist das traurige Negativbeispiel. Die Stadt, die alles wusste, aber nichts wollte. Die Nähe hatte – und doch verweigerte. Sie steht für all die Momente, in denen wir Gottes Ruf hören, aber uns hinter Tradition, Stolz oder Angst verschanzen. Das macht sie nicht böse – aber tragisch.
Maria von Bethanien hingegen zeigt, wie Sammlung aussehen kann: still, verschwenderisch, vertrauend. Sie macht nichts Großes – sie bringt einfach ihr Herz. Und das reicht. Zwischen beiden steht vielleicht Petrus – ambivalent, wankend, widersprüchlich. Einer, der zuerst „niemals“ sagt, dann „doch“, dann weint. Und am Ende gesammelt wird. Nicht weil er es verdient, sondern weil Jesus ihm entgegenkommt.
Im nächsten Schritt gehen wir noch tiefer: Persönliche Identifikation mit dem Text. Was will mir dieser Vers sagen – nicht in der Theorie, sondern im Heute? Was höre ich zwischen den Zeilen? Und wo spüre ich: Dieser Ruf meint mich.
Persönliche Identifikation mit dem Text:
In diesem Schritt stelle ich mir sogenannte „W“ Fragen: „Was möchte der Text mir sagen?“ in der suche nach der Hauptbotschaft. Dann überlege ich, „Was sagt der Text nicht?“ um Missverständnisse zu vermeiden. Ich reflektiere, „Warum ist dieser Text für mich wichtig?“ um seine Relevanz für mein Leben zu erkennen. Anschließend frage ich mich, „Wie kann ich den Text in meinem Alltag umsetzen/anwenden?“ um praktische Anwendungsmöglichkeiten zu finden. Weiterhin denke ich darüber nach, „Wie wirkt sich der Text auf meinen Glauben aus?“ um zu sehen, wie er meinen Glauben stärkt oder herausfordert. Schließlich frage ich, „Welche Schlussfolgerungen kann ich für mich aus dem Gesagten ziehen?“ um konkrete Handlungen und Einstellungen abzuleiten.
Was dieser Text mir sagen will, ist nicht bequem – aber ehrlich: Gottes Nähe ist nicht aufdringlich, aber auch nicht unbegrenzt ausblendbar. Er ruft – leise, liebevoll, geduldig. Aber nicht endlos ignorierbar. Ich höre in diesem Vers keinen göttlichen Frontalangriff, sondern ein zitterndes „Wie oft wollte ich…“. Es ist der Satz eines Gottes, der nicht aufgibt, aber auch nicht ewig wartet. Und das trifft mich. Weil ich weiß, wie oft ich mich entziehe, obwohl ich innerlich spüre: Ich werde gerufen.
Was der Text nicht sagt, ist mindestens genauso tröstlich: Er stellt mich nicht bloß. Er rechnet nicht auf, zählt keine Fehler auf, macht mir keine Angst. Jesus ruft nicht mit kaltem Protokoll, sondern mit einer Stimme, die bricht. Und genau deshalb lässt sie mich nicht los. Ich bin nicht verurteilt. Aber ich bin gemeint.
Warum ist dieser Text für mich wichtig? Weil er mir zeigt, dass meine punktuelle Flucht nicht immer dramatisch aussieht. Manchmal fliehe ich in Aktivität, in Theologie, in Worte. Ich tue viel für Gott, aber manchmal ohne bei ihm zu sein. Ich halte Andachten, aber manchmal vergesse ich, still zu werden. Ich erkläre Nähe, statt sie manchmal zuzulassen. Und Jesus ruft in dieses Manchmal rein. Nicht mit dem Vorwurf: „Du hast es falsch gemacht“, sondern mit der Einladung: „Komm näher. Nicht leisten. Lassen.“
Vielleicht ist dieser Ruf nicht nur emotional, sondern auch zeitlich gemeint. „Heute, wenn ihr seine Stimme hört…“ (Hebr 3,7). Nicht als Drohung, sondern als Erinnerung: Zeit ist ein Geschenk, kein Vorrat. Die Einladung gilt – aber sie ist kein Endlosangebot. Liebe wartet – ja. Aber nicht beliebig.
Wie ich den Text umsetzen kann? Ich glaube, es beginnt mit einem einfachen, ehrlichen Schritt in diesen manchmal Momenten: aufhören zu glänzen wollen. Ich darf einfach sagen: „Ich bin hier. Ich höre. Ich zögere. Aber ich höre.“ Vielleicht ist das schon der Moment, in dem Nähe beginnt. Vielleicht liegt die Umkehr nicht im Umwerfen meines Lebens, sondern im Zulassen einer Stimme, die sanft ist – aber klar.
Und dann und dass ist mega wichtig: Gott nicht mehr als Arbeitgeber behandeln, sondern als Vater. Der Lohn ist nicht Anerkennung, sondern Beziehung. Und die bekomme ich nicht, wenn ich funktioniere – sondern wenn ich bleibe. Wenn ich antworte. Vielleicht leise. Vielleicht tastend. Aber ehrlich.
Wie wirkt sich also dieser Text auf meinen Glauben aus? Er entgiftet ihn. Er reinigt ihn von Druck, Pflicht und Misstrauen. Er führt mich zurück zu dem, der ruft, nicht weil er mich braucht, sondern weil er mich liebt. Ich spüre: Glauben ist nicht das große Bekenntnis, sondern oft das stille Bleiben. Nicht das heroische Tun, sondern das Demüthige Lassen. Und das ist schwer. Aber heilsam.
Welche Schlussfolgerung ich ziehe? Ich will mich sammeln lassen. Nicht weil ich stark bin, sondern weil ich spüre, dass ich Schutz brauche. Und dass ich nicht mehr kämpfen muss. Nicht gegen mich. Nicht gegen ihn. Ich darf kommen – unfertig, zweifelnd, aber ehrlich. Und vielleicht beginnt genau dort der Glaube: Nicht im Mut, sondern im Dableiben. Nicht im großen Ja, sondern im kleinen Noch-da-sein. Und genau da – vielleicht genau da – beginnt Sammlung.
*Die SPACE-Analyse im Detail:
Sünde (Sin): In diesem Schritt überlegst du, ob der Bibeltext eine spezifische Sünde aufzeigt, vor der du dich hüten solltest. Es geht darum, persönliche Fehler oder falsche Verhaltensweisen zu erkennen, die der Text anspricht. Sprich, Sünde, wird hier als Verfehlung gegenüber den „Lebens fördernden Standards“ definiert.
Verheißung (Promise): Hier suchst du nach Verheißungen in dem Text. Das können Zusagen Gottes sein, die dir Mut, Hoffnung oder Trost geben. Diese Verheißungen sind Erinnerungen an Gottes Charakter und seine treue Fürsorge.
Aktion (Action): Dieser Teil betrachtet, welche Handlungen oder Verhaltensänderungen der Text vorschlägt. Es geht um konkrete Schritte, die du unternehmen kannst, um deinen Glauben in die Tat umzusetzen.
Appell (Command): Hier identifizierst du, ob es in dem Text ein direktes Gebot oder eine Aufforderung gibt, die Gott an seine Leser richtet. Dieser Schritt hilft dir, Gottes Willen für dein Leben besser zu verstehen.
Beispiel (Example): Schließlich suchst du nach Beispielen im Text, die du nachahmen (oder manchmal auch vermeiden) solltest. Das können Handlungen oder Charaktereigenschaften von Personen in der Bibel sein, die als Vorbild dienen.
Diese Methode hilft dabei, die Bibel nicht nur als historisches oder spirituelles Dokument zu lesen, sondern sie auch praktisch und persönlich anzuwenden. Sie dient dazu, das Wort Gottes lebendig und relevant im Alltag zu machen.
