Dieser Text gehört zu einer 87-teiligen Serie auf Basis von Ellens Buch „Das Leben Jesu“ – Impulse für den Alltag, jeweils mit Vertiefung, Fragen und Paralleltexten. Ziel: Jesus im Heute entdecken – nicht nur verstehen, sondern leben; Schritt für Schritt, Kapitel für Kapitel.
Stell dir die Szene einen Moment lang vor: der Tempel in Jerusalem. Ein Ort voller Bewegung, Routine – und dieser eigentümlichen, heiligen Schwere. Weihrauch hängt in der Luft, vermischt sich mit dem Geruch der Opfer und dem leisen Murmeln von Gebeten. Ein Priester versieht seinen Dienst, vielleicht ein wenig müde oder gleichgültig. Tag für Tag dasselbe Ritual: Er nimmt die Babys in die Arme, spricht den Segen, kassiert das Lösegeld, trägt die Namen in eine lange Liste ein. Ein Job wie jeder andere.
An diesem Tag tritt wieder ein Paar vor ihn. Sie fallen kaum auf – einfache Leute aus dem wenig angesehenen Galiläa. Ihre Kleidung schlicht, ihr Opfer bescheiden: zwei Tauben. Der Priester macht, was er immer macht. Er nimmt das Kind, hält es kurz vor den Altar, gibt es der Mutter zurück und notiert den Namen: „Jesus“. Routine. Haken dran. Nächstes Paar.
Doch was der Priester in seiner professionellen Blindheit nicht bemerkt: Er hat gerade das Todesurteil für sein ganzes religiöses System unterschrieben. In seinen Armen lag nicht einfach ein Kind, sondern die lebendige Antwort auf alle Fragen, die dieser Tempel je gestellt hat. Während die offizielle Religion nichts merkt, erkennen zwei unscheinbare Außenseiter im selben Raum die ganze Wahrheit.
Die Geschichte von Jesu Darstellung im Tempel kennen viele. Doch liest man sie mit den Augen von Ellen, wird aus einer stillen Episode plötzlich ein Wendepunkt der Geschichte. Sie zeigt, dass in diesem unscheinbaren Moment drei Dinge geschehen, die alles verändern – und uns bis heute ins Herz treffen:
Ein Zeitalter endet. Es wird offenbar, wer wirklich sehen kann. Und jedes Herz wird geprüft.
— Das Fundament: Mehr als nur eine nette Geschichte
Bevor wir zu Ellen kommen, lass uns kurz den Boden bereiten. Die Geschichte steht in Lukas 2,21–38. Lukas, der Autor, ist ein Meister der Komposition. Diese Szene ist für ihn keine Nebensache, sondern die Ouvertüre seines gesamten Evangeliums – hier klingen schon alle großen Themen an: das Wirken des Heiligen Geistes, Gottes Liebe zu den Außenseitern und Armen und sein Plan, der von Anfang an die ganze Welt umfasst.
Schon die biblische Botschaft an sich ist revolutionär:
Jesus ist kein Rebell, sondern die Erfüllung des Gesetzes.
Seine Rettung ist kein exklusiver Club für Israel, sondern ein Licht für alle Völker.
Er ist jemand, der herausfordert und zur Entscheidung zwingt.
Und das Entscheidende erkennt man nicht mit dem Kopf, sondern nur mit einem vom Heiligen Geist berührten Herzen.
Auf diesem biblischen Fundament baut Ellen nun das Haus – hoch, weit, mit Fenstern in alle Himmelsrichtungen.
— Als der Schatten dem Wesen wich
Für Ellen ist dieser Moment im Tempel ein gewaltiger Wendepunkt der Heilsgeschichte. Sie nimmt uns an die Hand und führt uns Tausende Jahre zurück – in jene dramatische Nacht, als Israel aus Ägypten befreit wurde. Das Ritual der Darstellung des Erstgeborenen war eine lebendige Erinnerung daran, dass Israels Rettung durch das Blut eines stellvertretenden Lammes an den Türpfosten erkauft worden war.
Und jetzt, so führt es Ellen uns vor Augen, legt der Priester das Kind in seine Arme, auf das all diese Symbole hingewiesen haben. Dieses Kind ist das wahre Passahlamm. Sein Blut ist die endgültige Antwort auf das, was das Blut an den Türpfosten nur andeuten konnte.
Darum greift Ellen zu so eindringlichen Bildern: Der Opferdienst war nur ein „Schatten“, doch Jesus ist das „Wesen“. Als der nichtsahnende Priester den Namen „Jesus“ in seine Liste einträgt, unterschreibt er das „Todesurteil“ für das gesamte Opfersystem. In diesem Augenblick tritt das Original an die Stelle der Kopie. Das Versprechen wird zur greifbaren Wirklichkeit. Das ist keine Reform – das ist das Ende eines Zeitalters.
— Wer wirklich sieht, wenn Gott vorbeikommt
Dieser Punkt liegt Ellen sichtbar am Herzen. Sie zeichnet einen Kontrast, der kaum deutlicher sein könnte.
Auf der einen Seite steht der Priester – der Profi, der Experte. Er versieht „gewohnheitsmäßig sein Amt“. Seine Augen sind geschult, auf Rang und Reichtum zu achten. Er hält die „Majestät des Himmels“ in den Armen, doch weil sie in die einfachen Windeln der Armut gehüllt ist, sieht er nichts. Er ist religiös erfahren, aber geistlich blind. Seine Augen, so schreibt Ellen, vermochten „nicht das Licht des Lebens zu schauen“.
Auf der anderen Seite: Simeon und Hanna. Zwei einfache Menschen. Alt, unscheinbar, ohne Amt oder Einfluss. Aber sie besitzen etwas, das dem Priester fehlt: ein sehendes Herz. Warum? Weil sie „nicht vergeblich in den heiligen Schriften geforscht hatten“ und offen waren für die stillen Impulse des Heiligen Geistes. Sie erkennen in demselben Kind, das für den Priester nur Teil der Routine ist, alles: den „Trost Israels“, das „Licht für die Heiden“, den Retter der Welt.
Und dann zieht Ellen die Brücke, die direkt zu uns führt: „So ist es noch heute.“
Die Frage, die sie uns damit stellt, trifft ins Herz: Sind wir als Gemeinde manchmal so beschäftigt mit unseren perfekten Programmen, unserer korrekten Theologie und unserer wohlgeordneten Routine, dass wir den lebendigen Christus übersehen – den, der uns in den Armen, den Leidenden und den Unscheinbaren begegnet?
Sind wir Experten für Religion geworden, aber blind für Gott?
— Ein Kind, das Herzen enthüllt
Das ist der tiefste – und vielleicht unbequemste – Gedanke.
Ellen nimmt Simeons harte Prophezeiung, dass dieses Kind „zum Fall und Aufstehen vieler“ gesetzt ist und „vieler Herzen Gedanken offenbar werden“, und legt sie wie ein feines Skalpell an die Seele der Menschheit.
Jesu Ankunft ist kein harmloses Ereignis. Er ist ein „Zeichen, dem widersprochen wird“ – an ihm scheiden sich die Geister. Wer sich selbst für stark und gerecht hält, stolpert über ihn und fällt. Wer aber seine eigene Bedürftigkeit erkennt, so zeigt es Ellen, muss „auf den Fels des Heils fallen und zerbrechen, ehe wir durch Christus erhöht werden können“. Es geht um nichts Geringeres als die Kapitulation des eigenen Ichs.
Ellen weitet diesen Gedanken bis in den kosmischen Konflikt hinein aus. Am Kreuz, so schreibt sie, standen sich die beiden Grundkräfte des Universums gegenüber: Liebe und Selbstsucht. Satans größte Lüge war immer, Gott als selbstsüchtigen Herrscher darzustellen. Doch in der selbstlosen Hingabe Jesu am Kreuz zeigt sich das Herz des Vaters – offen, verletzlich, voller Liebe. Und in diesem gleißenden Licht wird alles offenbar. Jede Ausrede zerbricht.
Unsere Haltung zu Christus – von der Krippe bis zum Kreuz – enthüllt, auf welcher Seite wir stehen. So, sagt Ellen, spricht sich jeder Mensch selbst das Urteil.
— Und jetzt? Die Brücke in unser Leben
Was machen wir nun mit dieser alten Geschichte? Sie ist weit mehr als ein Stück Historie – sie ist ein Spiegel.
Für uns als Gemeinde ist sie eine ernste Warnung vor professioneller Blindheit. Vielleicht kennen wir uns zu gut aus mit der Lehre vom Heiligtum, aber erkennen den Hohepriester nicht mehr, wenn er uns im Alltag begegnet. Und sie ist ein Aufruf, auf die Simeons und Hannas in unseren Reihen zu hören – auf die stillen Beter, die treuen Bibelleser, deren geistliche Einsicht oft mehr Gewicht hat als jeder Titel.
Für unsere Welt, zerrissen von Nationalismus und „Wir gegen die anderen“-Denken, ist diese Geschichte eine radikale Absage. Gottes Plan war von Anfang an global – und er schließt niemanden aus. In einer Zeit voller Fassaden und Selbstinszenierung ist Jesus der große Enthüller, der uns mit einer Echtheit konfrontiert, nach der sich insgeheim jeder sehnt.
Und für dich und mich ganz persönlich? Da bleiben am Ende nur ein paar bohrende Fragen.
Wo bin ich dieser Priester, der seine Routine abspult, während sein Herz kalt bleibt?
Wo achte ich mehr auf den äußeren Schein als auf die leise Stimme Gottes?
Bin ich bereit, mit meinem Stolz, meinem Rechthabenwollen und meiner Selbstgerechtigkeit auf diesen Fels zu fallen und zu zerbrechen – oder versuche ich immer noch, mein Leben selbst zu kontrollieren?
Und vielleicht die wichtigste Frage: Kann ich das Staunen wieder lernen? So wie Maria und Josef, die so viel wussten und doch einfach nur dastanden und sich wunderten. Vielleicht ist das der Anfang von allem: aufzuhören, alles verstehen zu wollen – und stattdessen wieder zu staunen über diesen Gott, der in einem hilflosen Kind die ganze Welt rettet.
Am Ende ist die Geschichte von Jesu Darstellung im Tempel eine Einladung:
die Augen vom Schatten auf das Wesen zu richten, von der Religion auf die Person, vom eigenen Ich auf den Heiland.
Es ist die Einladung, sich von ihm finden und verwandeln zu lassen – eine Reise, die heute neu beginnen kann.
Der Denk- und Arbeitsprozess – Der Weg in die Tiefe
Fragen, die ich mitnehme…
- Stell dir vor, Jesus würde nächsten Sabbat unangekündigt deine Gemeinde besuchen – nicht als strahlender König, sondern getarnt als der Obdachlose an der Tür, als die anstrengende Person in der dritten Reihe oder als das Kind, das den Gottesdienst „stört“.
- Wenn du ganz ehrlich zu dir bist: Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass du – so wie du gerade drauf bist, mit all deinen Routinen und vielleicht auch Aufgaben in der Gemeinde – Ihn genauso übersiehst wie der Priester damals?
- Und was sagt diese Wahrscheinlichkeit über die Kultur aus, die wir als Gemeinde geschaffen haben, in der wir vielleicht Expertinnen und Experten für den „historischen Christus“ geworden sind, aber den „lebendigen Christus“ übersehen?
- Ellen sagt, mit Jesus wich der „Schatten dem Wesen“. All die Rituale fanden in Ihm ihre Erfüllung – und damit ihr Ende. Schau auf dein eigenes Glaubensleben:
- Welche deiner frommen Gewohnheiten – Bibelstudium, Gebet, Sabbat – sind wirklich noch Fenster, durch die du das „Wesen“, also Christus selbst, siehst?
- Und wo sind sie zu dicken, verzierten Vorhängen geworden, hinter denen du dich vor einer echten, unkontrollierbaren Begegnung mit Ihm versteckst, weil der vertraute „Schatten“ sicherer und berechenbarer wirkt als die greifbare, herausfordernde Wirklichkeit?
- Simeons Prophetie ist knallhart: Jesus ist gesetzt zum „Fall und Aufstehen“. Ellen spitzt das zu: Wir müssen auf den Fels fallen und zerbrechen. Nimm an, dieses „Zerbrechen“ ist keine einmalige Bekehrungs-Explosion, sondern eine tägliche Entscheidung:
- In welchem konkreten Bereich deines Lebens – in der Familie, bei der Arbeit, in deinem Denken über dich selbst – weigerst du dich gerade am meisten, „zu fallen“ und die Kontrolle abzugeben?
- Wo klammerst du dich an dein Recht, deine Meinung oder dein Image – und verhinderst damit vielleicht genau das „Aufstehen“ in ein freieres Leben, das Gott für dich bereithält?
- Die Ankunft Jesu sollte die „Gedanken vieler Herzen offenbar werden“ lassen.
- Wenn das Leben Jesu wie ein Licht ist, das in die verborgenen Ecken deines Herzens scheint – welche Gedanken und Motive, die du sonst gut vor anderen und vielleicht sogar vor dir selbst versteckst, werden in Seiner Gegenwart plötzlich sichtbar?
- Was enthüllt Sein selbstloses Leben über die versteckte Selbstsucht, die vielleicht immer noch viele deiner Entscheidungen lenkt?
